Ausstellungseröffnung „Trost 45“ am 04.05.2015 in Duisburg – Rede Udo Baer

Sehr geehrte Damen und Herren,

Danke, dass Sie da sind. Ich freue mich sehr. Und ich freue mich sehr, dass das Thema „Trost 1945“ eine große Resonanz, ein großes Echo gefunden hat. Wenn ich abends den Fernseher anmache, dann finde ich Schreckensbilder über Schreckensbilder. Es gibt die ganzen Erinnerungsfilme, die Dokumentationen, es gibt den aktuellen Schrecken aus Syrien, aus Nepal, von überall her und mir ist das manchmal zu viel. Mir ist das manchmal zu viel, so wie es vielen Menschen, die diesen Schrecken erleben und erleben mussten, auch zu viel ist. Und doch ist es wichtig, sich daran zu erinnern. Ich finde es wichtig, sich an den Holocaust, an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern. Ich finde es wichtig, sich zu erinnern an die vielen Leiden, die die Menschen erleben mussten, in Deutschland, in ganz Europa, in der ganzen Welt, und die sie in manchen Gegenden Europas und der Welt immer noch erleiden müssen. Weil diese Erinnerung ist ja nicht
dazu da, dass wir in irgendwelchen Archiven kramen, sondern sie ist dazu da, dass wir gemeinsam etwas dafür tun, so gut wir können, dass sich dieses Leiden nicht wieder wiederholt. Dafür ist es da.

UND es ist manchmal zu viel. Das große UND darf und muss da sein. Wir haben deswegen gesagt, wir wollen diesen ganzen Schreckenserinnerungen nicht noch eine hinzufügen. Wir haben gesagt, wir wollen anregen, eine Ausstellung zu organisieren und durchzuführen, bei der es um Trost geht.

Den Trost haben damals die Menschen gebraucht und brauchen sie heute. Wir wollen den Menschen das Wort geben – aber auch das Bild geben – die damals diese Zeit erlebt haben, sie überlebt haben, und die heute zum Ausdruck bringen, was hat getröstet oder was hätte trösten sollen, wenn es zu wenig Trost gab. Ich freue mich, dass da so viele mitgemacht haben. Ich freue mich, dass das ein gutes Thema war, das anscheinend Menschen bewegt und angesprochen hat.

Ich möchte ein paar Worte dazu sagen, was in dem Wort „Trost“ überall mitschwingt. Wenn ich es von der Sprachbedeutung her anschaue, dann heißt Trost eigentlich, was Kraft spendet. Kraft und Stärke. Wenn Menschen Not haben, wenn Menschen leiden, entsteht die Frage: Woher bekomme ich Kraft und Stärke? Wie bekomme ich Kraft und Stärke? Von wem bekomme ich sie? Wie kann ich mir selber Kraft und Stärke geben? Was brauche ich dafür?

Manche der Menschen – das sehen Sie auch in den Bildern, an den Texten, an den Erzählungen – bekommen Kraft und Stärke im Glauben oder bekommen sie aus ihrer eigenen Lebenserfahrung. Ich habe Menschen interviewt zum Thema „Resilienz, Trost, Stärke“, die damals gelebt haben, und manche haben gesagt: „Ich bin so erzogen worden … Was zu schaffen ist, das schaffe ich. Das hat mir mein Vater oder meine Mutter immer gesagt und irgendwie ist das in mir, und irgendwie, wenn alles zusammengebrochen ist, war immer ein Impuls in mir, es anzupacken“. Ich habe auch oft gehört, dass manchmal die Kraft abhanden gekommen ist oder dass es so schient, als wäre sie abhanden gekommen. Aber da sind immer noch so kleine Goldstückchen im Geröll. Man muss nur danach suchen, man muss nur schauen, wo sie sind, damit sie wieder sichtbar werden, damit man sie ein bisschen polieren kann, damit sie wieder glänzen können. Und die dann auch Kraft und ihre lebensreiche Wirkung entfalten.

Wir haben auch erlebt, dass es Menschen gab, die sagten: „Ja, Trost, das ist auch etwas, da weiß ich gar nicht, was das ist. Ich habe gar keine Zeit gehabt, mich darum zu kümmern, was mich tröstet. Das fragen Sie mich jetzt nach 70 Jahren zum ersten Mal. Man musste anpacken, es ging gar nicht anders. Man musste anpacken, man musste sich kümmern, man musste überleben, man musste weiterleben.“ Ich finde es großartig, wie viele Menschen es geschafft haben, weiterzuleben und auch ein Stück dieser Energie an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Es gibt auch Menschen, die haben gesagt: „Trost? Das habe ich daraus geholt, dass ich eine Aufgabe hatte. Ich musste mich um meine Kinder kümmern. Ich musste mich um meine kranke Schwester kümmern. Ich musste mich um meinen Mann kümmern, als der aus der Kriegsgefangenschaft kam.“ Und dieses Kümmern hat bei – ich wollte gerade sagen jungen Leuten, aber das glaube ich gar nicht – ich meine: bei dem, was häufig öffentlich verbreitet wird, ein bisschen etwas von Mundgeruch – Fürsorge, Kümmern, das klingt so altmodisch. Aber ich finde das großartig. Um es neumodisch zu sagen: Kümmern ist cool. Was ist denn schlecht daran, sich um andere zu sorgen? Ich finde das wunderbar. Ich finde es wunderbar, sich um Andere zu kümmern. Und in der Abwertung des Kümmern schwingt oft mit: „Du darfst dich nicht vergessen, du kümmerst dich zuviel!“ – ja, mein Gott, in den Zeiten nach dem Krieg und immer in Notzeiten gab es nie ein Zuviel des Kümmerns. Ein Zuviel des Kümmerns, das ist der Luxus von manchen Menschen in sozialen Berufen, vielleicht. In der Not gibt es kein Zuviel des Kümmerns, da hat man jedes Kümmern, jedes Trösten und jede Fürsorge mitgenommen, weil sie nötig und weil sie notwendig waren und immer noch notwendig sind. Fragen Sie mal jemanden in Nepal, ob es ein Zuviel des Kümmerns gibt. Gar nicht. Da ist es notwendig und da ist es existenziell.

Manchmal habe ich auch gehört, wenn ich nach Trost gefragt habe, dass beim Trösten manchmal auch ein Vergleichen wichtig ist. „Ach, denen geht es aber noch schlechter“ oder so etwas wie: „Ach da war ich ganz schlimm drauf, weil ich mich in jemanden verliebt habe und an diese Person baber nicht herran gekommen bin“, erzählte eine Frau, „weil die so reich waren und ich  zu arm und ich mich um meine kleinen Geschwister kümmern musste. Und dann hat er, das war so ein stattlicher Kerl, jemand anders geheiratet und dann habe ich 30 Jahre später gehört, dass die Ehe ganz schrecklich war und das der ganz viel gesoffen hat, und das hat mich getröstet.“ Im Nachhinein. Auch so etwas kann trösten!

Ich kenne auch Menschen, die trösten sich alleine, indem sie aus dem, was sie jetzt belastet einen Schritt beiseite machen. Hier ist ein Zitat aus einem Interview, aus einem Gespräch, da sagte eine Frau: „Wenn es auch schlimm war, ich viel Trost brauchte, und eine Zeit lang zumindest von niemandem Trost bekam, dann nahm ich meine Flöte.“ Ihr Trost war die Flöte und war die Musik. Und ihre Mutter hat dieses Flöten sehr abgelehnt und, na ja, es war ja auch Nachkriegszeit … sich da um Musik, um Kunst, um so etwas zu kümmern, das war nicht so in, da ging es ums Überleben und Ernähren und Dach überm Kopf und so weiter. Das war für andere ein „Spleen“. Aber dieser Spleen hat sie getröstet. Und sie erzählte, dass sie sich immer in den Kleiderschrank eingeschlossen hat und darin geflötet hat. Dann hat man sie nicht gehört – und sie erwähnte das mit einem schmunzelnden Lächeln –  dass sie damals noch sehr dünn war und noch in den Kleiderschrank passte, und dass das heute nicht mehr gelingen würde, aber heute brauchte sie auch nicht mehr in den Kleiderschrank. Das ist das Gute an diesen Zeiten. Heute braucht keiner mehr, ich hoffe es, in den Kleiderschrank, um zu musizieren und Trost zu finden.

Es gibt Menschen, die brauchen den Trost für sich, im Gebet, in der Musik, oder indem sie sich gut zureden – doch fast immer hat der Trost etwas mit anderen Menschen zu tun. Das ist das, was mir am wichtigsten ist:

Trost ist ein soziales Gefühl, eine soziale Erfahrung, eine zwischenmenschliche Begegnung, ein zwischenmenschliches Tun, ein zwischenmenschliches Lächeln. Trost ist, wenn jemand da ist. Hier in der kreativen Traumahilfe, hier im Projekt Alter und Trauma – arbeiten wir viel mit traumatisierten Menschen, die Schlimmes erfahren haben. Und da geht es gar nicht darum, eine Checkliste zu haben von A bis Z, was man alles tun muss. Da geht es darum, da zu sein, vielleicht sogar, die Hand zu halten, zu gucken, zu hören, zuzuhören, zu lächeln, aber vielleicht auch mitzuweinen. Diese Erfahrungen sind existenziell. Das ist der Trost. Ich höre manchmal: „Ich habe mit einer Frau zusammengesessen und ich konnte sie nicht trösten und das war mir ganz schlimm, ich konnte gar nichts tun.“ Und dann sagt die Frau: „Dass sie mir zuhören, das tröstet.“

Trösten heißt nicht, das Leid wegzumachen. Trösten heißt, zu begleiten. Und das ist schon Trost, auch wenn ich nichts tun kann. Auch wenn ich meine Hilflosigkeit mit der Hilflosigkeit der Menschen teile, die ich begleite. Wenn ich sage, es ist schlimm und da können wir nichts dran tun, dann ist das der Trost, dass man damit nicht allein ist. Manchmal reicht das nicht, aber es ist immer der Anfang. Da bin ich mir sicher mit meinen mittlerweise vielen Jahrzehnten an Erfahrung. Da bin ich mir felsenfest sicher. Nicht allein zu sein, etwas zu teilen, hinzuschauen, hinzuhören – wunderbar. Und dann kann das, was im Herzen ist, was im Bauch ist, was wo auch immer belastet, dann kann das mitgeteilt werden und dann kann das hörbar werden und dann kann das sichtbar werden und dann wird das leichter. Vielleicht nur ein bisschen, aber man fängt ja immer mit einem kleinen Bisschen an und dann wird es mehr oder kann es mehr werden.

Und noch eine Erfahrung, die ich Ihnen mitteilen oder ein bisschen von erzählen möchte, die mich erschrocken hat. Wenn wir Menschen gefragt haben, was tröstet, was hat getröstet, dann sind wir immer auch Menschen begegnet, die gesagt haben: „Nichts. Da war nichts.“ Es gab viele Menschen, gerade in der Kriegs- und Nachkriegszeit, die waren damit allein. Und jeder war damit allein. Auch das gab es. Das hat sich später geändert, Gott sei Dank. Dann kamen Kontakte, Beziehungen, Begegnungen und so weiter hinzu, aber es gab und gibt auch solche Phasen.

Die ganze Generation derjenigen, die den Krieg erlebt haben, nicht nur in Deutschland, auch in den Niederlanden, in Frankreich, in Kroatien, überall, war auch eine ungetröstete Generation. Denn um getröstet zu werden, braucht es den Schritt davor, ist es notwendig zu sagen oder zu zeigen, dass es mir schlecht geht: Ich bin in Not, ich leide. Und auch dazu hatten viele keine Zeit. Und zur Zeit des Nationalsozialismus vor dem 8. Mai war das verboten, da durfte man das nicht sagen, da war das Wehrkraftzersetzung oder Defätismus. Da hieß es nur, stark zu sein und durchzuhalten. Und das ging nach 1945 lange Zeit weiter. Dieses Stark-Sein und Durchhalten ist eine Qualität, zu der ich großen Respekt habe vor dieser Generation, auch die Generation meiner Eltern. Ich habe viele Kämpfe mit ihnen und Streitigkeiten ausgeführt. UND ich habe einen grundlegend großen Respekt vor dieser Generation, die wieder gekämpft hat, die aufgebaut hat, die durchgehalten hat, die viel geschaffen hat, die Demokratie geschaffen hat, die Versöhnung mit Nachbarn geschaffen hat, die Gelegenheit geschaffen hat, dass wir heute hier sitzen und frei reden können, ohne dass jemand mithört oder uns verbietet oder kontrolliert. Doch es war eine ungetröstete Generation, auch das ist mir wichtig zu erwähnen.

Und wir haben von jüngeren Leuten gehört, die erst nach dem Krieg geboren wurden und uns erzählt haben: „Und wer hat uns getröstet? Meine Eltern konnten das nicht. Die waren so traumatisiert, so beschäftigt.“ Es gab auch in der Nachkriegsgeneration eine Schneise der Verwüstung des Ungetröstet-Seins. Das ist wichtig, zu wissen und ernst zu nehmen.

Und dann gibt es die Generation meiner Kinder, unserer Kinder. Die trösten auch ihre Kinder. Wenn die weinen, dann kriegen die nicht nur einen Bonbon, sondern sie erstmal werden umarmt und getröstet. Das habe ich mit meinen Kindern auch gemacht. Aber damals habe ich von anderen gehört: „Nein, das darfst du nicht. Verwöhn’ die nicht. Die müssen hart werden, hart bleiben, muss man durchkommen.“ Und meine Frau und ich, wir haben unsere Kinder immer verwöhnt. Ich bin Ehrenvorsitzender der Fans der Verwöhnung. Ich möchte auch verwöhnt werden, auch wenn ich jetzt 65 bin.

Das Entscheidende beim Trösten ist, dass es andere Menschen gibt. Man kann sich alleine viel trösten, aber das ist Notbehelf. Wir Menschen sind darauf angelegt, dass wir Fürsorge, Unterstützung, Dasein, Stärke auch, aber auch das Teilen von Not mit anderen Menschen erfahren. Wenn Sie in diesem Sinne heute diese Bilder, Texte, Objekte sehen, dann freut mich das sehr. Ich danke den Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Werke ausstellen. Manchen von ihnen sind hier, das freut mich besonders. Ich danke allen, die mitgeholfen haben, dass diese Ausstellung gelingen konnte – den Kolleginnen hier und in den Einrichtungen, den professionellen Helfern wie den Angehörigen.

Diese Ausstellung wird ein Jahr durch Deutschland gehen und über Duisburg hinaus an 10 weiteren Orten gezeigt werden. Ich wünsche ihr viele interessierte Besucherinnen und Besucher. Denn Trost tut Not, damals wie heute.

 

 

 

 

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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