Das Herz wird nicht dement

Tipps für den Umgang mit Gefühlen an Demenz erkrankter Menschen.

 

Das Gedächtnis lässt nach, das Orientierungsvermögen schwächelt. Und auch das Gefühlsleben von Menschen mit Demenz verändert sich, weiß Udo Baer. Ihren Angehörigen fällt es oft schwer, angemessen damit umzugehen

Bitte stellen Sie sich einmal vor: Sie treffen jemanden, wissen genau, dass Sie ihm oder ihr früher schon ein- oder gar mehrmals begegnet sind – aber Sie können sich an den Namen Ihres Gegenübers nicht mehr erinnern. Peinlich, oder?

Die allermeisten, selbst 25- und 30jährige, haben solche Episoden schon erlebt. Immerhin, nach ein paar Tagen ist der Zwischenfall vergessen. Sie sind ja nicht dement!

Anders, wenn sich solche Erlebnisse wiederholen oder gar häufen wie in der ersten Phase einer Demenz-Erkrankung. Die heftigen Gefühle, die das auslöst – Verunsicherung, Angst, Nicht-Wahrhaben-Wollen… – fordern auch die Angehörigen heraus. Angemessen und würdigend zu reagieren gelingt ihnen umso eher, je besser sie über die Demenz-bedingten Gefühlsveränderungen Bescheid wissen.

Scham

ist das Gefühl, das zumindest in der beginnenden Demenz am häufigsten auftritt. Die Betroffenen spüren, dass sie sich langsam, aber stetig verändern und den Erwartungen ihrer Umwelt immer öfter nicht mehr genügen; viele reagieren darauf mit Rückzug und geben Aktivitäten auf, die ihnen früher viel Freude machten. Die Scham wird mehr und mehr zur alltäglichen Begleiterin.

  • Erzählen Sie von Ihrer eigenen Erlebnissen, bei denen Sie Scham empfanden. Wie sind Sie damit umgegangen?

 

Beschämung

ist eine besonders heftige Form von Scham. Sie entsteht, wenn andere Unzulänglichkeiten und Fehler von Menschen ins Licht zerren und sie „vorführen“. Menschen mit Demenz passiert das oft, wenn sie –  manchmal in bester Absicht – wiederholt nach Ereignissen gefragt werden, an die sie sich nicht erinnern.

  • Bleiben Sie im Gespräch mit dementen Menschen radikal im Hier und Jetzt, in der Gegenwart. Erzählen Sie von dem, was war, aber fragen Sie nicht danach.

 

Angst

Eine Demenzerkrankung macht Angst. Den Betroffenen selbst, wenn sie im Anfangsstadium bestimmte bekannte Symptome bei sich beobachten oder zu beobachten glauben, aber auch bei ihren Angehörigen. Zu dem zunehmend verbreiteten Wissen über die Demenz und vor allem die Alzheimer-Demenz gehört nämlich auch, dass es dagegen bislang kein grundsätzlich heilendes Mittel gibt. Viele andere Krankheiten kommen und gehen, und die Erkrankten haben die Hoffnung, dass es wieder wird „wie früher“. In der Demenz gibt es diese Perspektive nicht.

  • Nutzen Sie alles, was Ihnen selbst gegen Angst hilft, und bieten es den Erkrankten an: Trost, eine Tasse Kakao, Handhalten, eine bestimmte Musik, das Haustier streicheln … Und reden Sie über die Angst. Geteilte Angst ist halbe Angst.

 

Trauer

Älter zu werden ist ein Prozess des Loslassens. Mit den Jahren verlieren wir Angehörige; Kinder werden groß und ziehen in andere Wohnungen oder Städte. Und: Manche Fähigkeit lassen durch Alter oder durch Krankheit nach; das beschränkt unsere Lebenschancen. Das gilt erst recht für Menschen, die an Demenz erkranken; sie müssen noch mehr loslassen, als das Älterwerden ohnehin schon mit sich bringt.

Das Gefühl des Loslassens ist die Trauer. Sie begleitet das Loslassen und ist deswegen nützlich und sinnvoll. Die Trauer dementer Menschen äußert sich selten darin zu sagen: „Ich bin traurig.“ Eher zeigt sich in versteckten Formen, manchmal in Aggressivität und Vorwürfen, oft in Rückzug.

  • Geben Sie der Trauer Raum. Sagen Sie nicht: „Du musst nicht traurig sein.“ Sondern: „Ja, es ist traurig, aber du bist damit nicht allein.“ Sprechen Sie die Traurigkeit an. Das hilft. Das Schlimme an der Trauer ist nicht die Trauer, sondern das Alleinsein damit. Mit jeder Träne verlässt ein Teil des Kummers unser Herz.

 

Aggression

Ärger, Wut, Zorn, Trotz, manchmal auch Hass äußern sich bei manchen Menschen mit Demenz heftiger als vorher, enthemmter. Gut, wenn die angegriffenen Mitmenschen unterscheiden können, welcher Quelle diese Gefühle gerade entspringen. Sind sie Ausdruck von Hilflosigkeit oder Überforderung? Sind sie Ausdruck eines schlechten Charakters? (Auch das gibt es: Böse Menschen werden nicht besser, wenn sie dement werden!) Sind Sie „umgetauscht“ worden, verbergen sich dahinter also eigentlich unausgesprochene Schuldgefühle oder Trauer? Oder ist dieser Ärger, dieser Zorn womöglich sogar berechtigt, weil das Essen nicht schmeckt oder die Kleidung, die die Betreuerin bereit gelegt hat, viel zu warm oder zu eng ist?

  • Schauen oder lauschen Sie auf den „Subtext“ der aggressiven Äußerungen, auf das, was sich dahinter verbirgt. Je nachdem ist eine andere Reaktion angemessen. Bei Überforderungen zum Beispiel besteht die einfachste Abhilfe darin, sie zu reduzieren. Auf jeden Fall gilt: Gegen Gefühle helfen keine Argumente. Eher hilft es, eigene Gefühle zeigen: „Das verletzt mich.“ Oder: „Das macht mir Angst.“ Und immer hilft es, möglichst die eigene Erregung zu reduzieren und zu beruhigen.

 

Liebe

Auch Menschen mit Demenz lieben. Oft haben sie keine Worte mehr dafür, aber ihr Herz ist nicht dement. Ihr Herz ist voller Gefühle, auch der Liebe. Sie können es oft nur schwer zeigen oder nur sporadisch. Doch wenn es vor der Erkrankung Liebe gab, ist sie auch in der Demenz da.

  • Zeigen Sie Ihre Liebe. Sprechen Sie sie aus, egal ob Sie verstanden werden oder nicht. Und sagen Sie den erkrankten Menschen: „Ich liebe dich nicht, weil du dir Namen oder Worte merkst. Ich liebe dich als Mensch, weil du ein liebenswertes Herz hast. Wenn du Namen und Worte vergisst, ändert das an meiner Zuneigung nichts. Das Herz wird nicht dement. Die Liebe auch nicht.“

 

Quelle: Baer, Udo (2015). Das Herz wird nicht dement. Neue Gespraeche. Schwerpunkt Demenz.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Ein Kommentar zu “Das Herz wird nicht dement

  1. Lieber Herr Baer,

    ich kann Ihrer Einschätzung und Ihren Beiträgen nur zustimmen. Ich arbeite in einem Altenheim als Diakonin und Seelsorgerin in der sozialen Betreuung und biete dort neben Gottesdiensten auch Bibelstunden an. Diese Stunden werden von unseren dementen Bewohnern genauso gerne besucht wie von unseren orientierten Bewohnern. Die Stunde bietet den Bewohnern einen freien Austausch in einem geschützten Rahmen. Jeder kann auf seine Weise seinen Gefühlen und Ansichten zum Thema der Stunde Ausdruck verleihen und von seinen Erfahrungen, seiner Trauer, seinen Ängsten und seiner Freude berichten. Oft wird auch mit Gott gehadert und geschimpft. Das ist gut, denn so kommen wir ins Gespräch und können über unseren Glauben unsere Hoffnungen und Erwartungen und Enttäuschungen sprechen. Viele Menschen stellen in den Stunden erstaunt fest: sie sind nicht alleine mit Ihren Ängsten und Sorgen. Hier haben wir andere Menschen denen geht es genauso und die nehmen Anteil, geben Ihre eigenen Erfahrungen und Nöte preis. So entsteht eine Gemeinschaft die sich trägt. Vielleicht nicht immer aber zumindest in diesen Augenblicken. Das ist schon viel finde ich und jede Bibelstunde bereichert auch mein Leben. Wir beenden die Stunde mit dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser und dem Psalm 23. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
    Auch im Alter nicht. Das ist unsere Zuversicht.

    Herzliche Grüße,
    Ihre Anke Laskowski

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