Der Mutige im Apfelbaum

(der Name des Bewohners wurde geändert)

Achim Sinn ist 45 Jahre alt und an Alzheimer erkrankt. Es macht ihm sehr zu schaffen, dass er in diesem Alter schon diese Erkrankung hat. In den Morgenstunden hat er sehr mit seinen depressiven Stimmungen zu kämpfen und möchte am liebsten gar nicht aus seinem Zimmer kommen.
Die Leitung der Einrichtung stellte mich eines Morgens Herrn Sinn als Kunsttherapeutin vor und er erzählte mir sofort, dass er in jungen Jahren als Künstler tätig war. Nach einer Weile entschieden wir uns einen gemeinsamen Spaziergang zu machen und lernten uns kennen. Er erzählte mir viel über lustige Erlebnisse seiner Kindheit, wir lachten zusammen und fachsimpelten bis wir uns gemeinsam auf eine Bank in die Sonne setzten. Immer wieder erzählte er mir davon, dass er als Kind mit seinen Kumpels durch die Siedlung strich und bei einem Bauer die Äpfel vom Baum klaute. „Das waren die Leckersten, aber wir mussten immer gut aufpassen, dass wir nicht erwischt wurden. Ich habe als Kind stark gestottert und wurde oft gehänselt. Dafür war ich aber immer der Mutigste von uns. Ich bin nämlich auf den Baum geklettert, weil meine Kumpels zu feige waren. Aber geteilt habe ich dann trotzdem mit ihnen!“ Jedes Mal, wenn er mir diese Geschichte erzählte, sah ich einen glänzenden Stolz in seinen Augen und erlebte ihn aufgerichtet.

Aus meiner Tasche ragten ein paar Pinsel heraus und Herr Sinn fragte neugierig, ob er sich meine Pinsel mal anschauen dürfe und ob ich denn auch hier male. Ich sagte ihm, dass ich zwar male, aber es bestimmt nicht so gut könne, wie er als Künstler. „Aber das kann man doch lernen. Man kann alles lernen wenn man will!“ Wir verabredeten uns für den nächsten Tag zum gemeinsamen Malen.

Ich richtete ein kleines Atelier im Gruppenraum ein und holte Herrn Sinn aus seinem Zimmer ab. Er fühlte sich, wie fast jeden Morgen, nicht besonders gut und bat mich schon mal vorzugehen. Nach einigen Minuten kam er nach und sah das kleine Atelier. Seine Augen strahlten und sahen zugleich traurig aus. „Das sieht ja gut aus … aber ich kann das leider nicht mehr! Ich würde Ihnen aber gerne zuschauen, wenn ich darf!“ sagte er.
Ich nahm eine Leinwand und begann den Apfelbaum zu malen, von dem er mir sooft erzählt hat. Herr Sinn schaute aufmerksam zu und rutschte mit seinem Stuhl immer näher. Ich lud ihn zwischendurch immer mal wieder ein, gemeinsam mit mir zu malen, aber er sah seine Aufgabe darin, mich fachlich anzuleiten.
Er erzählte mir immer wieder von dem Apfelbaum des Bauern und dass er der Mutigste von allen war. Ich bat ihn um Tipps vom Fachmann und fragte ihn nach Details des Apfelbaums aus seiner Kindheit, die er mir auch gerne gab. Irgendwann stand er auf und stellte sich neben mich und die Leinwand. Er betrachtete mein Bild und bestärkte mich in dem, was ich machte, und gab mir hier und da noch Anregungen zur Verbesserung.
Er erzählte mir wieder von seiner mutigen Apfelbaumgeschichte …

Nach einiger Zeit kam ein Pfleger an uns vorbei und Herr Sinn ging aufgerichtet zu ihm und sagte voller Stolz: „Ich habe eine neue Schülerin! Die ist gar nicht so untalentiert. Die Zeit meines Künstlerlebens ist zwar vorbei, aber ich kann ja mein Wissen noch weitergeben.“
Ich schenkte ihm das Bild des Apfelbaumes und er stellte es in sein Zimmer.

Am nächsten Tag erzählte mir ein Pfleger, dass Herr Sinn gefragt hat, wo denn dieses Bild herkomme und wer es in sein Zimmer gestellt hat.
„Das Bild erinnert mich an einen Apfelbaum in meiner Kindheit. Ich habe zwar gestottert, aber dafür war ich der Mutigste!“

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