Spürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 2: Das Schauen

Schon bei der Geburt ist die Augenmuskulatur nahezu vollständig entwickelt. Neugeborene nehmen die Augen der Mutter wahr, ihr Blick wird oft als „offen und unverstellt“ beschrieben. Schon im Alter von acht Wochen beginnen Säuglinge, direkten Blickkontakt zur Mutter aufzunehmen, und suchen deren Blick. Im Alter von drei bis sechs Monaten ist die Interaktion zwischen Mutter und Kind vor allem eine visuelle, eine durch die Primäre Leibbewegung Schauen geprägte, ein Tanz der Blicke. Das Kind kann in dieser Lebensphase „Bewegungen seiner Gliedmaßen sowie die Augen-Hand-Koordination erst geringfügig kontrollieren. Dagegen ist das visuell motorische System schon nahezu ausgereift und im Blickverhalten ist das Kind ein erstaunlich tüchtiger Interaktionspartner. Der Blickkontakt ist eine wichtige Form sozialer Kommunikation.“ (Stern 1992, S.39)

Doch auch später ist das Schauen wichtig: Menschen begegnen sich über das Schauen: Blicke begegnen sich, nehmen Kontakt auf, weichen aus, senden Signale, spielen miteinander, tanzen miteinander. Das Schauen ist wichtig, aber auch das dazugehörende Gesehenwerden. Wer nicht gesehen wird oder sich nicht gesehen fühlt, kann an sich zweifeln oder gar verkümmern. Wer nicht würdigend, sondern missachtend und verachtend gesehen wird, wird verletzt.

In der Altenhilfe findet – bewusst oder unbewusst – über die Primäre Leibbewegung Schauen ständig eine spürende Begegnung statt. Auch alte Menschen haben das Bedürfnis, gesehen zu werden und damit gewürdigt zu werden (soweit sie nicht schon aufgegeben haben und resigniert sind). Sie müssen gesehen und angeschaut werden und das beinhaltet für sie die Botschaft: Ich bin es wert, beachtet zu werden. Wir kennen in der Umgangssprache die Bezeichnung „über etwas oder jemanden hinwegsehen“. Wenn andere Menschen über einen Menschen hinwegsehen, dann ist dies verletzend und entwürdigend.

Blicke können auch strafend oder abwertend sein und besonders häufig begegnen wir in der Altenhilfe dem leeren Blick. Wir sollten darauf achten, wenn Augen alter Menschen leer werden. Diese Leere kann man anatomisch nicht beschreiben, aber wir spüren sie und wir spüren sie sehend in der Begegnung. Diese Leere kann unterschiedliche Qualitäten beinhalten. Manchmal haben sich alte Menschen aus der Welt herausgezogen und man sieht dies in ihrem Blick. Oft zeigen die leeren Augen, dass diese Menschen sich in einem „Film“ befinden, in einer anderen erlebten Wirklichkeit. Wir reden von den „doppelten Wahrheiten“ oder „doppelten Wirklichkeiten“. Am Beispiel von Frau Meierle ist zu vermuten, dass ihr starrer Blick einerseits der Pflegerin Elisabeth L. galt. Auf sie war der Blick gerichtet, sie spürte ihn und reagierte darauf. Die andere Wirklichkeit bestand darin, dass die Pflegerin – so ist zu vermuten – wohl Ähnlichkeiten mit der Tochter von Frau Meierle hatte und der starre Blick mit seinem Groll und seiner Forderung und der Sehnsucht auch der Tochter gegolten haben kann. Menschen in der Pflege müssen oft mit diesen doppelten Wirklichkeiten umgehen und diese zeigen sich nicht nur in Worten sondern sehr häufig und vor allem sehr intensiv in den Primären Leibbewegungen wie hier dem Schauen.

Es ist hilfreich, diese doppelten Wahrheiten zu akzeptieren und nicht einfach Frau Meierle zu sagen: „Ich bin doch nicht Ihre Tochter, sondern Elisabeth L.“ In dem Schauen ist Elisabeth L. auch die Tochter von Frau Meierle und der Blick gilt beiden, der Tochter und Elisabeth L.

Elisabeth L. hat angemessen reagiert, indem sie Frau Meierle nicht beschimpfte oder abwertete („Was gucken Sie so starr? Lassen Sie das doch!“), sondern ihren Blick erwiderte und vor allem auf die im Blick enthaltende Sehnsucht reagierte. Um mit solch doppelten Wahrheiten umzugehen, reicht es in der Regel, sich nicht ausschließlich innerhalb der Primären Leibbewegung Schauen, mit der wir uns gerade beschäftigen, zu bewegen. Es ist wichtig, auch andere Leibbewegungen hinzuziehen, wie Frau Elisabeth L. es getan hat. Sie nahm die Stimme dazu (Tönen) und das Greifen, indem sie die Hände von Frau Meierle ergriff und sie ansprach. Sofort veränderte sich die Beziehung.

Pflegende in der Altenhilfe können nicht nur interessiert und würdigend schauen. Sie sind auch mal genervt, überfordert, gestresst. Dann ist es wichtig, nicht zu versuchen, die Blicke zu verstellen, denn den „falschen Blick“ kennen die alten Menschen in der Regel zu Genüge und haben in ihrem Leben häufig genug darunter gelitten. Entscheidend ist, dass das Schauen der Pflegenden wahrhaftig ist, so interessiert und würdigend wie möglich – und wenn dies in einer konkreten Situation nicht gelingt, dann ist es wichtig, auch die Worte hinzuzunehmen und dies zu erklären: „Hallo, Herr Schmitz, ich bin heute etwas gestresst, aber das hat nichts mit Ihnen zu tun.“ Oder: „Bitte, Frau Schulz, lassen Sie sich doch helfen. Was Sie selber tun können, dürfen Sie ja auch und sollen Sie ja auch tun, aber hier muss ich Ihnen helfen, Sie bringen mich sonst ganz durcheinander.“

Wichtig beim Schauen ist auch das gemeinsame Schauen in eine Richtung. Bei Kleinkindern ist es ein großer Schritt in der Entwicklung, wenn Mutter bzw. Vater und Kind gemeinsam in eine Richtung schauen können, vielleicht in die Richtung, in die ein Finger zeigt, oder gemeinsam auf ein Buch oder Ähnliches. Gemeinsames Schauen in eine Richtung wird als gemeinsames Gerichtetsein erlebt und das Gerichtetsein ist eine besondere Schwierigkeit für Menschen mit Demenz, deren Orientierungsfähigkeit schwindet.

Die Sinnfrage ist für viele alte Menschen eine große Herausforderung und das Wort „Sinn“ heißt in der ursprünglichen Bedeutung „Richtung“ , was noch im Wort „Uhrzeigersinn“ erscheint. Wenn Pflegende mit alten Menschen gemeinsam in eine Richtung schauen, dann schafft das Verbundenheit und sinnvolles Gerichtetsein, z. B. indem ein Buch angeschaut wird oder ein Film, einem Vogel in der Natur nachgeschaut oder eine Blume betrachtet wird.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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