Spürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 3: Das Tönen

Säuglinge können sich von Geburt an lautstark bemerkbar machen. Ihr stimmliches Ausdrucksvermögen ist trotz fehlender verbaler Sprache äußerst differenziert und vielfältig. Es reicht vom fast unhörbaren Wimmern bis zum herzhaften Schreien.

In ihrem Tönen geben Menschen ihr Innerstes nach außen, sie werden hörbar und suchen danach, gehört zu werden, manchmal er-hört. Zum Tönen gehört auch das Hören: das Bedrohliche einer Atmosphäre, die Stimmung in einer Stimme, der Rhythmus und die Erregung eines Atems oder der Klang eines Schweigens.

Auch alte Menschen können manchmal resigniert sein: „Auf mich hört ja niemand.“ Hier ist das Nicht-Gehörtwerden Ausdruck der Unwirksamkeit. Manche sind verstummt und versuchen gar nicht erst, wieder hörbar zu werden. Wenn mit diesen Menschen gemeinsam gesungen wird, ist dies oft nicht nur ein Zeitvertreib, sondern fördert genau diese Qualität des Hörbarwerdens. Gerade das gemeinsame Singen unterstützt darüber hinaus die Verbindung mit anderen Menschen.
Auch sonst ist es in der Arbeit mit alten Menschen wichtig, genau hinzuhören. Nicht nur die Worte sind wichtig, sondern auch der Klang der Stimme, denn in ihr kann die Stimmung deutlicher hörbar werden als in dem Inhalt des Gesagten. Wenn Menschen schreien oder schimpfen, ist es wichtig, auf den Klang dieser Schreie oder sonstigen Äußerungen zu hören. Jedes Schreien ist anders und ruft andere Resonanzen hervor: Welche Bilder entstehen bei mir, wenn ich zuhöre? Was klingt in mir an?

Manche Menschen, die kaum noch mit Worten zu erreichen sind, sind durch Klänge zu erreichen. Wenn Frau Friedrichs niemanden mehr „an sich heranlässt“ und apathisch versinkt, braucht der Pfleger Ben O. nur leise einen Schlager von Hildegard Knef zu summen oder gar zu singen und schon öffnet sie die Augen und summt oder singt nach einer Weile das Lied ihrer Lieblingssängerin mit. Klänge berühren das Herz. So wie jeder Mensch Stimmen anziehend oder abstoßend finden kann, reagieren auch alte Menschen auf die Stimmungen, die sie in den Stimmen der Pflegenden mitbekommen.

Nun können und sollen Pflegende nicht ihre Stimme verstellen und nicht jeder alte Mensch ist so sensibel, dass er unmittelbar auf den emotionalen Gehalt von Stimmen reagiert. Doch Pflegende sollten sich ihrer Stimme und Stimmungen bewusst sein und so wahrhaftig wie möglich damit umgehen. Wenn Pflegende unter Druck sind, wird sich der Druck auch in der Stimme zeigen oder die Stimme wird verstellt sein bzw. „aufgesetzt“. Also kann es wichtig sein, das zu benennen, was ist, den Druck oder die sonstige vorhandene Stimmung, und nicht zu versuchen, dies zu verbergen. Menschen jeden Alters brauchen wahrhaftige Begegnungen.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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