Spürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 4: Das Greifen

Greifen ist auch Be-Greifen. Kinder begreifen die Welt. Kinder greifen nach der Mutter oder dem Vater, sie greifen nach Spielzeug, nach der Flasche, nach der Brust, nach allem, was sie interessiert. Auch Erwachsene greifen, immer wieder. Ist das, was Menschen greifen wollen, nicht vorhanden oder entzieht sich ihnen, greifen sie ins Leere, machen sie Erfahrungen mit dem Nichts. Geschieht dies häufig, hören Menschen auf zu greifen. Sie halten ihre Greifimpulse zurück, spannen sich an oder empfinden ihre Hände als zu unlebendig, gelähmt oder schlaff, um mit ihnen nach etwas greifen zu können. Wer nicht mehr in die Welt hinausgreifen kann und darf, wird irgendwann seine Neugier und Entdeckungsfreude durch Furcht und Zurückhaltung ersetzen.

Greifen ist auch eine Begegnung zwischen Menschen. Menschen greifen nach anderen Menschen und werden von ihnen ergriffen, was Menschen im positiven Sinn hilft, sich zu spüren. Menschen können aber auch nach anderen Menschen greifen, indem sie sie verletzen und entwürdigen, ihre Grenzen verletzen und sie missachten. In der Altenhilfe begegnen wir Menschen, für die Greifen in doppelter Hinsicht wichtig ist: Sie haben Sehnsucht danach, er-griffen und berührt zu werden, und viele haben Angst davor oder scheuen davor zurück. Beide Aspekte müssen Fachkräfte in der Altenhilfe berücksichtigen.
Beginnen wir mit dem zweiten Aspekt: Viele alte Menschen haben traumatische Erfahrungen hinter sich. Untersuchungen lassen begründete Schätzungen zu, dass dies bei drei von vier Menschen gilt, die heute über 65 Jahre alt sind. Dazu gehören Kriegstraumata, Übergriffe sexueller Gewalt – schon im Wort Übergriff ist das Wort greifen enthalten. Sie wurden verletzend ergriffen. Die Reaktion besteht entweder darin, dass sie diese schlimme Erfahrung an andere weitergeben und selbst „übergriffig“ werden oder aber, zumeist, sich nicht mehr trauen, nach anderen Menschen die Hände auszustrecken.

Allzu oft sind diese Menschen nach den Erfahrungen sexueller oder anderer Gewalt allein geblieben. Sie wurden übersehen und nicht erhört – um hier wieder die beiden erstgenannten Primären Leibbewegungen zu erwähnen. Diese Leereerfahrungen sind für Menschen schrecklich. Wir sollten deshalb in der Altenhilfe alles tun, um Menschen nicht wieder ins Leere gehen zu lassen. Dafür sollten wir „greifbar“ und „berührbar“ bleiben, selbstverständlich dabei unsere Grenzen und unsere Würde achtend. Und wenn wir Menschen, mit denen wir arbeiten und die wir im Alter begleiten, berühren und nach ihnen greifen, dann ist es wichtig, dass wir vor jeder Berührung fragen, ob wir sie berühren dürfen. Dieser Respekt ist die wesentliche Qualität in der spürenden Begegnung des Greifens.

Darüber hinaus gibt es vielfältige Wege, erlebnisöffnende Zugänge des Greifens anzubieten. Wir wollen Menschen, die nach Leereerfahrungen in Resignation versunken sind, wieder Möglichkeiten eröffnen, greifende Begegnungen zu üben. Fällt es Menschen schwer, nach anderen Menschen zu greifen, so ist es oft leichter, erst Impulse im Greifen nach Gegenständen auszuprobieren. Nach verschiedenen Materialien zu greifen, sie zu berühren und zu ertasten, fördert die Sinnlichkeit und das Spüren. Wichtig ist es, dies nicht nur als Beschäftigung durchzuführen oder als Gedächtnistraining („Was ist das?“) anzubieten, sondern vor allem die leibliche Qualität des Spürens zu fördern. Dies geschieht insbesondere dadurch, dass wir den inneren Ort des Bewertens aktivieren und Greiferfahrungen als Wertschätzungstraining anbieten. Nicht: „Was ist das?“ sollte unsere Hauptfrage lauten, sondern: „Mögen Sie dies oder mögen Sie dies nicht?“ Mit jeder Entscheidung, ob jemand etwas mag oder nicht, wird eine Bewertung getroffen. Wer einen Klang mag, wird sich zu ihm hinbewegen oder sein Interesse zumindest auf diesen Klang richten, wer ihn nicht mag, wird sich davon abwenden. Dies gilt für Klänge ebenso wie für Bilder, für Tasterfahrungen ebenso wie für Gerüche oder andere sinnliche Kontakte mehr. Sie sind ein In-die-Welt-hinaus-Greifen und sie implizieren Wertschätzungen. All dies zu üben, geschieht mit sinnlichen Kontakten als erstem Schritt viel leichter, als wenn es sich sofort auf Menschen und deren Qualitäten bezieht.

Gerade bei schwindender Orientierung in die Welt hinaus, wie bei der Alzheimerdemenz oder Altersdepression, sind solche spürenden Greiferfahrungen wichtig, um die Hinwendung zu anderen Menschen und damit zur sozialen Welt zu unterstützen. Wesentlich ist dabei auch, dass wir als Pflegende darin vorbildlich sind, indem wir auch unsere Wertschätzungen kundtun und uns nicht etwa neutral verhalten.

Series Navigation<< Spürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 3: Das TönenSpürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 5: Das Drücken >>

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.