Spürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 6: Das Lehnen

Menschen brauchen es, sich anzulehnen. So hingebungsvoll, wie sich Säuglinge und Kleinkinder anlehnen und anschmiegen können, gelingt dies Erwachsenen nur noch selten. Umso größer ist die Sehnsucht danach. Menschen brauchen es auch, dass sich andere an sie anlehnen, dass sie Halt geben können und dürfen. Das Lehnen ist die früheste Form des Körperkontaktes, intim und innig. Vielen Erwachsenen und insbesondere alten Menschen ist diese Primäre Leibbewegung verloren gegangen. Vielen ist sie fremd und gleichzeitig sehnen sie sich mit ganzem Herzen danach.

Sie kennen vor allem das Ablehnen oder Abgelehnt-Werden. Wenn alte Menschen andere kontinuierlich ablehnen, dann kann sich dahinter die Sehnsucht verbergen, selber sich anlehnen zu dürfen, eine Sehnsucht, die nicht mehr gelebt werden kann und die sie vielleicht selber ablehnen, da sie Anlehnen mit Schwäche und Hilflosigkeit verbinden. Wer sein Leben mit der Notwendigkeit des Überlebenskampfes durch Krieg, Not und Hilflosigkeit bestritten hat, kann sich oft gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, sich anlehnend hinzugeben. Oft wird dies mit Selbstaufgabe und Ohnmacht gleichgesetzt.

Andere habe ihr Leben lang so viel gearbeitet, dass sie auf der einen Seite Sehnsucht haben, „die Hände in den Schoß zu legen“, dies aber andererseits gar nicht genießen können. Wir sollten alten Menschen, deren Sehnsucht nach Lehnen wir verspüren, ermutigen, diese Qualität spürender Begegnung in kleinen Schritten auszuprobieren. Wir können Ihnen ab und zu Rückendeckung anbieten und sie einladen, sich ein wenig an uns anzulehnen. Eine leichte und häufige Möglichkeit besteht darin, eine Hand an unsere Hand anzulehnen, eine Begegnung, die keine Ängste hervorruft und für die meisten Menschen ohne Scham durchführbar ist. In einer Altenpflegeeinrichtung hatte ich eine Zeitlang in einer Gruppe mit einer Frau zu tun, die sehr unruhig war. Über verschiedene Kontakte spürender Begegnung fanden wir heraus, dass ihre Lieblingsbegegnung darin bestand, dass sie eine meiner Hände nahm, sie die Hand ausgestreckt auf ihre Wange legte und sich mit ihrem Kopf gegen diese Hand lehnte. Dabei strahlte sie.

Als ich ein halbes Jahr später diese Einrichtung wieder besuchte, war diese Frau zu einer Art „Hausterroristin“ geworden, wie mir eine andere Bewohnerin zuflüsterte. Sie war so unruhig und so aggressiv, dass sie viele Bewohner/innen und Mitarbeiter/innen belästigte und viele Angst vor ihr hatten. Als sie mich sah, stürzte sie auf mich zu, nahm meine Hand, legte ihr Gesicht in diese Hand, wurde ganz ruhig und strahlte. Dies hielt sie rund eine Minute aus – dann machte sie weiter wie gehabt … Für Erfahrungen des Lehnens reichen keine einmaligen Begegnungen. Die Sehnsucht, sich anzulehnen, ist eine Sehnsucht, auf die wir kontinuierlich eingehen müssen, in der ambulanten wie in der stationären Pflege, in konkreten einzelnen Begegnungen wie in der Atmosphäre einer ganzen Institution. Sich anlehnen zu können, beinhaltet auch, eine Atmosphäre des Haltes und des Trostes zu schaffen, in der Menschen befähigt werden, alles, was sie selbst tun können, auch selbst zu tun, aber da, wo sie Hilfe brauchen, Rückendeckung zu erhalten.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Jede dieser Primären Leibbewegungen beschreibt eine motorische Tätigkeit. Beim Sehnen, Fühlen, Greifen, Drücken und Lehnen sind Muskeln beteiligt, Sinnesorgane, funktioniert unser biologischer Körper. Doch wir sind nicht nur Körper, wir sind auch Leib, wir sind lebendige und erlebende Menschen, die wir uns und unsere Welt spüren können und uns und anderen Menschen spürend begegnen können. Um diese Qualität geht es auch und vor allem. Beide Aspekte, der körperliche und der sinnlich spürende, sind miteinander verknüpft, ineinander verwoben. Wichtig ist mir, und mit dieser Hoffnung möchte ich diesen Beitrag schließen, einige Anregungen gegeben zu haben, die spürenden Begegnungen, die in der Altenhilfe stattfinden, näher und offener zu beachten, und die Fähigkeit eines jeden Menschen, der in der Altenhilfe tätig ist, selbst spürende Begegnungen zu gestalten, zu fördern und dazu ermutigen, sie zu nutzen.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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