Stärkungsbriefe an einen dementiell erkrankten Freund: 2. „Die große Unterscheidung – Demut ohne Demütigung“

This entry is part 2 of 4 in the series Stärkungsbriefe an Fritz

Die folgenden Briefe gehen an einen Freund, der an Demenz erkrankt ist und vor kurzem die Diagnose erhalten hat. Ich werde diese Briefe hier veröffentlichen, damit auch andere dementiell Erkrankte, die dies lesen können, die eine oder andere Anregung zur Stärkung erhalten können. Selbstverständlich ohne intime Details. Fachkräfte und Angehörige, die dementiell erkrankte Menschen begleiten, können daraus – so wünsche ich mir – einige Anregungen erhalten. Udo Baer.

Lieber Fritz,
du weißt ja, dass ich auch einige Erkrankungen hinter mir habe und manche davon Folgen haben, die mich mein Leben lang begleiten werden. Mir hat geholfen zu unterscheiden zwischen dem, was ich verändern kann, und dem, was ich nicht verändern kann. Wir Menschen haben alle Dinge, Ereignisse, Umstände in unserem Leben, auf die wir keinen oder kaum Einfluss haben, die wir zumindest in der konkreten Situation nicht verändern können. Dazu gehören oft Krankheiten. Wenn ich meine Energie darauf verwende, diese Krankheiten zu beseitigen, oder mich immer nur gräme und mit meinem Schicksal hadere, dann ist das verlorene Energie. Ich versuche, die Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was ich ändern kann und was ich nicht verändern kann, und meine Kräfte daraufhin zu konzentrieren, worauf ich Einfluss habe, worin ich wirksam bin, wo ich etwas bewegen kann. Was ich bewegen kann, sind die Beziehungen zu den Menschen, die ich gern habe und die mir wichtig sind. Dazu gehörst du und anderes mehr. Hinsichtlich der Lebensaspekte, die ich verändern kann, versuche ich, aktiv zu sein, so, wie es meinen Kräften und Möglichkeiten entspricht. Gegenüber dem, was ich nicht verändern kann, bemühe ich mich um eine Haltung der Demut.

Demut bedeutet nicht, sich demütigen zu lassen. Weil Demut oft mit Demütigung verwechselt wird, hat sie deswegen einen etwas schlechten Ruf. Demut ist für mich aber etwas ganz anderes. Demütigung kommt von außen, Demut kommt von innen, ist eine Haltung, sich vor dem zu verneigen und das zu akzeptieren, was ist, zu würdigen, was ist. Auch das, was nicht im Rahmen meiner oder unserer Veränderungs-Möglichkeiten steht. Diese Demut hilft mir und setzt Energien frei für das, was ich gerne mache und was mir wichtig ist und was möglich ist.

Herzliche Grüße
Udo

Stärkungsbriefe an einen dementiell erkrankten Freund- 1. Der Schock

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Die folgenden Briefe gehen an einen Freund, der an Demenz erkrankt ist und vor kurzem die Diagnose erhalten hat. Ich werde diese Briefe hier veröffentlichen, damit auch andere dementiell Erkrankte, die dies lesen können, die eine oder andere Anregung zur Stärkung erhalten können. Selbstverständlich ohne intime Details. Fachkräfte und Angehörige, die dementiell erkrankte Menschen begleiten, können daraus – so wünsche ich mir – einige Anregungen erhalten. Udo Baer.

Lieber Fritz

Als ich gestern von dir hörte, dass du die Diagnose Alzheimer-Demenz erhalten hast, hat mich das erschrocken. Auch du warst erschrocken, ja mehr, du warst unter Schock. Deine Frau und deine beiden Kinder auch. Ich will dir schreiben, was ich dir gestern auch schon versucht habe zu sagen. Bei unserem Gespräch warst du so geschockt, dass du nur wenig zuhören konntest. Ich hoffe, es hat dir trotzdem gutgetan.

Bei dieser Diagnose, ähnlich wie bei anderen Erkrankungen, geschockt zu sein, ist normal und selbstverständlich. Wir wissen alle, dass eine Alzheimer-Demenz nicht heilbar ist und dass sie fortschreitet. Das erschreckt, auch wenn wir wissen, dass du viele Jahre leben kannst und wirst und dass du mit deiner Frau, deinen Kindern, deinen Freunden und Bekannten eine gute Umgebung hast. Sie kann dich halten und unterstützen und doch bleibt der Schrecken, bleibt der Schock. Ein Schock lässt verstummen und erstarren. Es fehlen einem zunächst die Worte und man fühlt sich gelähmt. Das ist wichtig zu akzeptieren. Wir Menschen sollten, wenn wir geschockt sind, nicht darüber hinweggehen, auch du nicht, auch ich nicht. Und dann, nach einiger Zeit, einigen Stunden, einigen Tagen – das ist bei den Menschen unterschiedlich – ist es wichtig, darüber zu reden, um den Schrecken zu teilen. Darüber zu sprechen, was dich bewegt, wird dir gut tun, auch deiner Familie. So, wie ich dich kenne, hast du wahrscheinlich Sorge, dass du dich mit deinem Schrecken, deinen Ängsten und anderen Gefühlen deiner Familie nicht zumuten möchtest, um sie nicht zu belasten. Doch das ist Unsinn. Deine dir nahestehenden Menschen lieben dich und schätzen dich. Und sie bekommen sowieso mit, was du spürst. Sie teilen den Schrecken und auch den Schock. Es tut auch ihnen gut, wenn du deine Begegnungen und Kontakte mit ihnen nicht herunterfährst oder Gefühle aussparst, sondern sie mit ihnen teilst, ja noch intensiver ihnen begegnest als vielleicht zuvor. Den Schock zu respektieren, ist wichtig, ihn allmählich zu überwinden mit allem, was dazugehört, ihn zu teilen, ist noch wichtiger.

Wir können jederzeit telefonieren oder uns über das Internet unterhalten, auch wenn ich so weit weg wohne.

Herzliche Grüße

Udo

 

Die Trauer der Angehörigen

Frau G. pflegte ihre demenziell erkrankte Mutter. Die Demenz schritt fort und Frau G. erzählte, dass sie immer trauriger würde: „Immer öfter muss ich weinen. Immer öfter bekomme ich richtige Schübe von Traurigkeit. Ich weiß gar nicht so richtig, warum.“
Wir unterhielten uns über die Beziehung zu ihrer Mutter. Sie erzählte, dass sie sie gerne hatte und vieles von ihrer Mutter ihr vertraut war, und dass doch auch Veränderungen immer sichtbarer würden. Das war es, was sie traurig machte.
Eine andere Frau, bei deren Mann die Demenz schon weit fortgeschritten war, sagte: „Das ist noch mein Mann – und das ist er nicht mehr. Ich komme mir vor, als wäre er gestorben. Und dabei lebt er noch.“

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Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann, Teil 14: Vergissmeinnicht

 

 

Bei Familienangehörigen, die für einen Angehörigen eine Demenz-Diagnose erhalten haben, fördern wir Austausch und Gespräche zu den vielen Aspekten, die wir in den bisherigen 13 Kurzbeiträgen beschrieben haben. Zum Abschluss sollte ein Ritual hinzukommen, das wir besonders lieben. Wir fordern alle Beteiligten auf, sich untereinander ein „Vergissmeinnicht“ zu schenken. Nicht nur der demenziell erkrankten Person, sondern allen. Jeder für jeden.

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Agitiertheit, Teil 7: Schmerzen

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Wenig bekannt ist, dass auch unerkannte Schmerzen zu Agitiertheit führen können. Wenn starke Schmerzen vorhanden sind oder auch mittelstarke Schmerzen nicht behandelt werden, sondern dauerhaft einen Menschen belästigen, dann beunruhigt das. Wenn demenziell erkrankte Menschen keine Worte haben, um ihre Schmerzen zu beschreiben, dann drücken sie ihr Beunruhigtsein in Unruhe aus. Agitierte Verhaltensweisen können entstehen, ja sich verfestigen.

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Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann, Teil 13: Nicht nur Opfer

 

 

 

Menschen mit demenziellen Erkrankungen sind nicht nur Opfer. Eine solche Erkrankung ist schlimm UND es kann auch positive Entwicklungen geben. Die Gefühlswelten treten mehr in den Vordergrund. Die unmittelbare Leiblichkeit wird lebendiger und sichtbarer. Eine Frau sagte über ihren demenziell erkrankten Mann: „So nett wie seit der Erkrankung war er noch nie zu mir. Vor allem kann er jetzt mal Gefühle zeigen. Das ging vorher gar nicht.“

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Agitiertheit, Teil 6: Agitierte Depression

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Starke Unruhe und Agitiertheit können auch Ausdruck einer Depression sein. Das ist zu wenig bekannt.

15% der Menschen, die älter als 65 Jahre sind, leiden an einer Depression. Man schätzt, dass 40 % der Depressionen bei älteren Menschen nicht erkannt, sondern mit den Folgen demenzieller Erkrankungen verwechselt werden. Mögliche Ursachen einer Altersdepression sind so vielfältig wie die Ausdrucksformen. Die bekannten Symptome einer Depression wie Niedergeschlagenheit, Antriebsschwäche, Konzentrations- und Schlafstörungen können auch bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen auftreten.

Unterschiede zwischen einer Altersdepression und demenziellen Erkrankungen können und dürfen nur ärztliche und psychologische Fachpersonen diagnostizieren. Anhaltspunkte können sein, dass sich die demenziellen Symptome zumeist schleichend entwickeln, während eine Depression plötzlich ihre Wirkung zeigen kann. Vor allem verlieren Menschen mit Depressionen nicht ihre Orientierung, was für Menschen mit demenziellen Erkrankungen charakteristisch ist.

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Agitiertheit, Teil 5: Was hilft?

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Am wichtigsten ist und am meisten hilft, dass die Pflegenden darum wissen. Alleine das Verständnis kann Brücken bauen und Menschen beruhigen. Es geht nicht, diesen Menschen zu sagen: „Es ist doch schon so lange her.“ Dagegen ist es wichtig, zu sagen: „Ja, Sie erinnern sich an etwas Schlimmes. Das hat Sie gerade erfasst und das ist schlimm.“ Dann fühlen Menschen sich verstanden und nicht ausgestoßen. Weiter lesen

Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann, Teil 11: Sinnesbrücken

 

 

 

Sinne verbinden, Sinne schaffen Sinn. Sinn und Sinnlichkeit sind nicht voneinander zu trennen. So wichtig es ist, dass sich zum Beispiel im Rahmen der partnerschaftlichen Biographiearbeit die an Demenz erkrankte Personen und ihre Angehörigen auch darüber verständigen, welchen Sinn sie in ihrem Leben gesehen haben und auch zukünftig sehen, so wichtig ist es auch, sich Sinnesbrücken bewusst zu machen und sie zu bauen.

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Agitiertheit, Teil 4: Agitiertheit bei Kriegstraumata

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Zwei Drittel der Menschen, die heute (2019) älter als 72 Jahre sind, haben in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit traumatische Erfahrungen erleiden müssen. Die Hälfte von ihnen mehrmals. Lange Zeit über viele Jahrzehnte wurden die Folgen solcher traumatischen Erfahrungen versteckt oder ins Unbewusste „weggedrückt“. Doch mit zunehmendem Alter, mit zunehmender Schwäche und Gebrechlichkeit, können solche Trauma-Folgen wieder lebendig werden. Sie zeigen sich häufig in Unruhe und Agitiertheit.

Frau Nissen kann kaum noch laufen, doch sie bewegt sich immer auf und ab. Sie läuft hier- und dorthin mit angestrengter Miene und konzentrierter Starre im Blick. Eine Mitarbeiterin fragt sie: „Wo wollen Sie denn hin?“ Sie schaut auf, hält kurz inne und geht dann weiter. Keine Antwort.

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