Wie klingt Loslassen, wie klingt Trost? Musiktherapie in der Hospizarbeit

(Auszug aus dem Vortrag beim Kompetenztag in Herne 2008: „Wenn Worte allein nicht reichen …“)

„Das beeindruckendste und vitalste Beispiel für buchstäblich ganzkörperliche Bewegung und geistig-seelische Bewegtheit durfte ich mit Frau Kruse erleben:

Frau Kruse

Frau Kruse leidet zusätzlich zu ihrer Krebserkrankung unter großen Angst- und Unruhezuständen, ist aber mit über 80 Jahren noch sehr gut auf den Beinen. Ich setze mich zu ihr an den Küchentisch und sie erzählt in wirklich rasendem Tempo (wie ein Wasserfall) und zunehmend atemloser von ihrer Kindheit und Jugend in Westpreußen.

Selbst ein langes, von ihrer Mutter verfasstes Gedicht über ihre Heimat geht ihr fließend auswendig von den Lippen und sie ist beglückt mir von ihrem Elternhaus erzählen zu können. Ich bin schon  ganz erledigt vom vielen Zuhören und frage nach damaligen Freizeitvergnügen. Sie antwortet wie aus der Pistole geschossen mit „tanzen, am liebsten Walzer“.  Sofort summt sie eine Melodie, bewegt dazu die Hände im Takt und bei den ersten Klängen von „An der schönen blauen Donau“ (J.Strauss) tanzen auch ihre Füße.

Ich ermuntere sie, ein Tänzchen mit mir zu wagen. Nach anfänglichem Zögern („Schaffe ich das? Ich kann gar nicht so lange stehen! Was ist, wenn mir schwindelig wird?“) und wachsendem Vertrauen in meine Fähigkeit, sie (fest) zu halten, tanzen wir beinahe elf Minuten in der Küche des Hospizes. Ich schaue ihr dabei die ganze Zeit in die Augen, damit sie bei den Drehungen eine Orientierung hat und passe mich ihrer Kondition an. Andere Hospizgäste und auch Krankenpflegerinnen und -pfleger sehen uns zu, was Frau Kruse überhaupt nicht wahrnimmt, so beschäftigt ist sie mit tanzen und Refrain singen.

Anschließend ist sie sehr außer Atem und sagt zu mir: „Ich dachte, das beruhigt mich, aber das erregt mich (sie hat wirklich erregt gesagt!) und das ist sehr schön.“

Am darauf folgenden Tag verstirbt sie. Der Titel eines beeidruckenden Bildbandes von Beate Lakotta und Walter Schels aus einem Berliner Hospiz trifft hier voll zu: „Noch mal leben vor dem Tod“.  Frau Kruse hat – im wahrsten Sinne des Wortes – ihren letzten Walzer getanzt.

Musik wirkt hier leiblich und bewegt und weckt ungeahnte Kräfte.

Der gleiche Tanz kann aber auch rein im Innern stattfinden:

Frau Becker

Frau Becker (76) ist krankheitsbedingt bettlägerig, seit der Geburt blind und bekommt jeden Nachmittag Besuch von ihrem beinahe vollständig erblindeten Mann, der ihr sehr liebevoll zugewandt ist. Bei unserer ersten Begegnung war sie alleine und wir konnten über die Töne der Kalimba (Instrument zeigen), die sie sehr berührten, eine Verbindung zueinander herstellen. In der folgenden Woche einigten sich Frau und Herr Becker auf Chormusik (Mendelssohn-Bartholdy, „O beata et benedicta“/„Hebe deine Augen auf“), die sie beide ruhig und ganz auf die Musik konzentriert anhörten.

Acht Tage später – bei meiner letzten Begegnung – ist Frau Becker bedeutend schwächer, aber sehr aufgeschlossen. Das Ehepaar erzählt von früheren Zeiten, in denen sie begeisterte Tänzer waren … „am liebsten Walzer“. Auf Nachfrage lege ich J.Strauss „Wiener Blut“ auf. Beim Zuhören wirken beide wortlos innig miteinander verbunden und scheinen beinahe „feierlich/ versonnen“ entrückt zu sein. Sie erzählen danach rege von vielen Tanzabenden und –wochenenden, die sie gemeinsam mit anderen erblindeten Paaren verbracht haben

Ein zweiter Walzer wird gewünscht, J.Strauss, „Frühlingsstimmen“. – Es ist Ende Oktober!- (Hörbeispiel) Und nach den ersten Takten fragt Herr Becker leise und mit ganz viel Wärme in der Stimme: “Darf ich bitten, Margarete?“  (Mein Eindruck ist, dass beide  unsichtbar und doch deutlich spürbar aus dem Zimmer hinaustanzen, sich aus der Realität lösen woanders hin, irgendwie nicht mehr da sind. – Mir kommen die Tränen.)

So erinnert Musik auch hier an vergangene schöne Zeiten, weckt Gefühle und führt weg aus den krankheitsbedingten Einschränkungen und der Begrenztheit des Hospizes in eine andere Welt. Und sie stellt eine Verbindung her zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die den Lebens- und ggf. Sterbeprozess begleiten kann.

Dem Walzer kommt hier aufgrund seines Dreiertaktes eine besondere Bedeutung zu, weil man sich mit ihm aus der Realität herausdrehen kann!“

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Ein Kommentar zu “Wie klingt Loslassen, wie klingt Trost? Musiktherapie in der Hospizarbeit

  1. Dieser Artikel von Dir, lieber Udo, hat mich tief bewegt! Und bestätigt in meiner Erfahrung und Erlebniswelt mit Menschen, die mit schwerer Demenz leben und/oder bettlägerig sind, bzw. im Sterben liegen! Das Tanzangebot, mit einzelnen Bewohnerinnen spontan aus der Situation heraus (Resonanz) und einmal im Monat im „Tanzcafé Tango“ in der Gruppe, ist bei uns im Wohnbereich des Seniorenzentrums das „Highlight“ schlechthin und kann nicht als wertvoll genug für die Lebensfreude und die tiefe emotionale Berührung eingeschätzt werden. Wie oft hatte ich da schon Tränen der Freude und Berührung in den Augen. Die Musik und besonders die individuell ausgesuchten Musikstücke aller Couleur erreichen wirklich direkt das Herz bei den Betroffenen und verbinden Menschen miteinander! Der „Tanz der Hände“ zu Walzermusik z.B. ist bei verschiedenen Bettlägerigen – wird mit Begeisterung angenommen! – nicht weg zu denken bei den „Angeboten nach Wunsch“. Die Bewohner haben zum großen Teil eigene „Wunschmusik-CD’s“, die ihre speziellen Vorlieben berücksichtigen (Biographiearbeit). Viele suchen den Augenkontakt beim Tanzen, auch wenn sie liegen, was immer eine wundervolle Erfahrung von Begegnung und menschlicher Nähe für alle Beteiligten ist! Und manche schließen die Augen und träumen… Vielen Dank für den wundervollen Artikel und die wertvollen Anregungen!

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