Wie trauernde Menschen begleiten?

Handreichungen und Hilfen für Fachkräfte
Wer Menschen mit Demenz und deren Angehörige begleitet, begleitet trauernde Menschen. Sie trauern um das, was sie verloren geht: Fähigkeiten, Erinnerungen, Möglichkeiten der Begegnung. Deswegen ist es sinnvoll, über Sinn und Besonderheiten des Gefühls des Trauerns Bescheid zu wissen und Wege zu kennen, wie mit trauernden Menschen professionell umgegangen werden kann. Darüber will ich in diesem Beitrag informieren.

Trauern – das Gefühl des Loslassens

Jedes Gefühl hat einen Sinn, eine Bedeutung für die jeweils fühlenden Menschen. Trauern ist das Gefühl des Loslassens. Auch andere Gefühle können den Prozess des Loslassens begleiten: Freude, Erleichterung, Zorn, Angst vor der Zukunft … Doch das Trauern ist für die meisten Menschen das häufigste und wichtigste Gefühle, das das Loslassen begleitet.

Loslassen müssen Menschen von vielem. Loslassen gehört zum Leben. Wir müssen von Freund/innen und Partner/innen loslassen, die wir verlassen oder von denen wir verlassen werden. Wir verlieren Menschen, die sterben. Wir müssen von Träumen loslassen oder vom Beruf. Fähigkeiten gehen ebenso verloren wie Besitztümer. Kinder werden selbstständig und gehen schließlich „aus dem Haus“, auch das ein Prozess des Loslassens.

Manchmal sind wir froh, wenn wir loslassen können, z. B. vom Arbeitsdruck, von Sorgen oder von einer belastenden Beziehung. Doch zumeist tut das Loslassen weh. Es schmerzt, jemanden oder etwas zu verlieren. Der Ausdruck dieses Schmerzes ist das Trauern. Zu trauern unterstützt das Loslassen, es hilft, über etwas hinwegzukommen oder den Schmerz erträglicher werden zulassen. Das ist der Sinn des Trauerns.

In dem Buch „ABC der Gefühle“ haben Gabriele Frick-Baer und ich 60 Gefühle interviewt. Wir befragten sie, als ob sie Personen wären, nach ihrer Bedeutung und danach, wovor sie Angst hätten. Darunter auch die Trauer. Sie antwortete:

Ich bin kurz und heftig. Ich kann aber auch nachtragend sein und jahrelang, manchmal ein Leben lang, einen Menschen erfüllen. Als „Bedauern“ komme ich flüchtig, ja beiläufig daher oder ich ergreife die Macht über einen Menschen, so dass ich jeden Gedanken und jede Bewegung bestimme. Meistens pendele ich irgendwo dazwischen.

Ohne mich wären Beziehungen zu Menschen, Gegenständen oder anderem Wichtigem nur so lange etwas wert, wie sie andauerten. Ohne mich würde nichts und niemand bleiben. Ja, das verwundert Sie und kommt Ihnen widersprüchlich vor; aber so ist es: Ich bin das Gefühl, das zum Loslassen gehört, und, weil es mich gibt, sortieren die Menschen beim trauernden Loslassen, was verloren geht und was bleibt – als bereichernde Erfahrung, als Erinnerung, als Begleitung in die Zukunft. Wenn es mich nicht gäbe, wäre jede Erfahrung „ex und hopp“. Wer mich nicht leben kann, kann nicht reicher werden.

Ja, ich schmerze. Und ich sorge, wenn ich angenommen werde wie ich bin, dafür, dass der Schmerz aufhört (oder wenigstens erträglich wird). Die Tränen, die ich hervorrufe, schmelzen den Schmerz. Wer versucht, mich fernzuhalten, oder wer mich nicht wahrhaben will oder mich bremst und nicht zeigt, der bleibt im Schmerz stecken. Den bestrafe ich. Dann werde ich zu einem Dauerleiden, zu Starre, zu einer betäubenden Melancholie oder, wenn es gar zu schlimm wird, zum Gefühl der Gefühllosigkeit. Das will ich nicht und deswegen bitte ich darum, mich zu achten und mir Raum zu geben.

Angst, nein Angst macht mir eigentlich niemand. Ich bin selbstbewusst genug, um zu wissen, dass kein Mensch mir endgültig ans Leben gehen kann. Angst vor mir müssen allerdings manche haben: die Coolen, die „Indianer-kennen-keinen-Schmerz“- oder „Jungen-weinen-nicht“- oder „Ich-bin-keine-Heulsuse“-Typen. Ich sorge dafür, dass sie mich nicht loswerden, dass ich mich in ihnen einniste und in ihnen bohre und rumore. Oft verwandle ich mich in andere Gefühle (natürlich in fiese) oder in körperliche Schmerzen. Von mir überzeugen möchte ich gerne die Leute, die zwar trauern, aber die Trauer nicht zeigen. Diese einsamen Trauernden haben zwar oft Angst, dass ich unendlich werde, wenn sie sich zu viel und zu öffentlich mit mir zeigen. Das ist natürlich ein gewaltiger Irrtum: Je mehr ich mit anderen Menschen geteilt werde, desto eher verschwinde ich oder besser: ziehe ich mich zurück und mache den Platz frei für Trost oder Erleichterung. Das mache ich gerne. Warum nur fällt es manchen Menschen so schwer, einzusehen, dass ich gerade dann, wenn ich nicht gezeigt werde, sondern im Verborgenen bleiben muss, mich dauerhaft einrichte. Ich mache es mir bequem und mein Gaststatus wandelt sich in lebenslanges Bleiberecht. (Baer, Frick-Baer 2008a)

Trauern ist gut – aber nicht allein!

Das wichtigste, was sich für Menschen, die Menschen begleiten, aus dieser Einschätzung der Trauer ergibt, ist die Haltung gegenüber der Trauer: Trauern ist gut und sinnvoll! Wenn wir andere darin unterstützen, ihrer Trauer Raum zu geben, dann ist dies professionelle wie persönliche Begleitung zugleich.

Eine solche Haltung ist nicht selbstverständlich. Üblich ist es, dass beim ersten Anflug von Trauer gleich mehrere Packungen Tempotaschentücher gereicht werden, dass Trauer mit „Ist doch nicht so schlimm“- oder „Es wird schon wieder“-Sätzen weggetröstet werden soll, dass professionelle Begleitung Unterstützung auf der „Sachebene“ anstrebt. Hintergrund dafür sind mehrere Faktoren:

– Über die emotionale Resonanz (Spiegelneuronen) mobilisiert die Trauer der Klient/innen auch Trauergefühle der Begleitenden. Wer nicht gelernt hat, diese Gefühle für sich anzunehmen, sondern eher dazu neigt, sie zu verdrängen, wird dahin tendieren, sie bei den Klient/innen abzuschwächen oder gar auszugrenzen.

– Wir Menschen haben neben dem expliziten kognitiven Gedächtnis ein implizites Leibgedächtnis, ein Gedächtnis des Erlebens, das insbesondere das emotionale Gedächtnis einschließt (Fuchs 2000). Das bedeutet: jede aktuelle Trauer kann alte Trauererfahrungen mobilisieren. Trauer kann sich so über den gegebenen Anlass hinaus verstärken. Das kann Angst machen.

– In unserer Gesellschaft gibt es keine Kultur des Trauerns. Trauer wird ausgeblendet oder skandalisiert. Der Schmerz um Verstorbene wird in fast leere Kirchen und in die „Privatsphäre“ abgedrängt. Bei größeren Unglücken oder Morden wird die Trauer zum Medienereignis hochgepuscht und dann schnell wieder vergessen, wenn die nächste Kuh durch das Mediendorf getrieben wird. In den meisten Krankenhäusern z. B. sind v.a. zwei Gefühle tabu: die Angst und die Trauer. Das sind aber die häufigsten Gefühle der dort behandelten Menschen und ihrer Angehörigen. Wenn sich diese Gefühle wie die Trauer nicht mehr ganz verdrängen lassen, dann gibt es Spezialisten. Und wieder befindet sich die Trauer in der Nische der Seelsorge oder ähnlicher Sonderbereiche.

Dem ist entgegenzustellen: Trauern gehört zum Leben. Trauern heißt, Verluste zu fühlen. Trauern ist nötig, um loszulassen. Trauern gehört ins Private wie ins Professionelle. Trauern gehört in die Gesellschaft.

In meiner langjährigen therapeutischen Praxis habe ich nur äußerst selten erlebt, dass eine Klientin oder ein Klient an der Trauer so sehr gelitten hat, dass sie therapeutische Hilfe brauchten. Sicherlich: Trauern schmerzt und alle erleben lieber Freude oder Liebe als Trauer. Doch die Trauer war nie das Problem, unter dem Menschen so litten, dass sie Hilfe brauchten. Problematisch waren die Angst vor der Trauer, die Scham zu trauern und die Einsamkeit beim Trauern:

– Viele Menschen hatten und haben Angst, ihre traurigen Gefühle zulassen. Zumeist ist dies gesellschaftlichem Druck geschuldet oder früheren Erfahrungen, mit ihrer Trauer beschämt oder allein gelassen worden zu sein. Wenn dann die Trauergefühle lange verdrängt worden sind, entsteht oft die Befürchtung, dass sie unermesslich groß werden, wenn sie „hervorbrechen“. Wer häufig weint, weiß, dass die Tränen wieder versiegen. Wer nie weint, fürchtet, im Meer der Tränen zu ertrinken.

– Viele Menschen werden beschämt, wenn sie trauern. „Stell dich doch nicht so an“, sind oft noch harmlose Äußerungen, die sie zu hören bekommen. Trauer zu zeigen, ist Schwäche und Schwäche darf nicht sein. Oder: Traurigkeit ist Zeichen mangelnder Professionalität und dann wird in der Supervision „mehr Abgrenzung“ verlangt. Nichts gegen Abgrenzung, aber trauernden Klient/innen statt Mitgefühl eine „coole“ emotionslose Haltung zu zeigen, bedeutet, sie mit ihrem Trauern allein zu lassen und ihre Gefühle anzuwerten. Und Menschen sind nun einmal mitfühlende Wesen, auch die Profis, und das ist gut so.

– Aus Angst vor Beschämung und Abwertung neigen viele Menschen dazu, ihre Trauer nicht zu zeigen, sondern nur für sich allein zu trauern. Doch dann neigt die Trauer dazu, sich einzunisten, sich zu verewigen. Menschen, die aus dem Trauern nicht herauskommen, sind Menschen, die nicht so sehr in ihrer Trauer feststecken, sondern in ihrer Einsamkeit. Trauer braucht Begleitung. Nicht immer und keine aufgedrängte oder gar aufgezwungene. Aber eine Begleitung, die die Trauer wahrnimmt und ernst nimmt. Was dies für die Begleitung von Menschen mit Demenz bedeuten kann, darauf werde ich später zurück kommen.

Nicht zu trauern macht krank. Die Krankheit kann viele Formen annehmen, die Depression ist eine davon. „Über 60 % aller Depressionen entstehen aus unverarbeiteter Trauer“, sagt Dr. Manfred Wolfersdorf, ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth (2004). Auch Manie-ähnliches Getriebensein kann seine Wurzeln in ungelebter Trauer haben. Der Stress und die Kraftanstrengung, Trauer zu vermeiden bzw. zurückzuhalten, kann wiederum zu körperlichen Erkrankungen unterschiedlicher Art führen.

Ungelebte Trauer kann auch demenzielle Prozesse beeinflussen.

Demenz ist Loslassen, Loslassen ist Trauern

Auch Menschen ohne Demenz begegnen im Alter zahlreichen Erfahrungen, die mit Loslassen verbunden sind. Verwandte und Freund sterben, der Beruf wird aufgegeben, Krankheiten und Alterserscheinungen machen vieles unmöglich, was früher selbstverständlich schien: das Tennisspiel wird ebenso schwieriger wie die Sexualität, die schweren Koffer muss ein anderer tragen, man nimmt lieber den Aufzug als die Treppe. Auch Träume platzen: manch ein berufliches Ziel wurde nicht erreicht, die Bergwanderung im Himalaya ist zu gefährlich für die Gesundheit oder der ersehnte gemeinsame Ruhestand wird durch den Verlust eines geliebten Menschen unmöglich. Auch ohne Demenz ist die Trauer oft mit der Angst verbunden, dass es noch schlimmer kommt.

In der Demenz ist diese Befürchtung Gewissheit: Vieles wird schlimmer.

„Ich kann spüren, wie ich diesen rutschigen Abhang hinuntergleite. Ich empfinde eine Traurigkeit und Angst, die ich nie zuvor erfahren habe.“ (Rose 1997, S. 45)

Manchmal ist die Trauer laut, zumeist aber kommt sie leise daher. Eine Angehörige berichtet, dass sie und ihre Familie bei ihrer Mutter Gefühlsausbrüche erlebten:

„Nicht laut. Nicht vehement. Keine wortreiche Klage. Marianne weinte still vor sich hin. Die Tränen flossen kaum sichtbar aus den Augen. Wenn man sich jetzt zu ihr setzte, konnte man zu hören bekommen: ‚Wenn ich doch sterben könnte!’“ (Funke 1998, S. 41)

Im Verlauf der demenziellen Entwicklung verändert sich die Art des Trauerns. In der ersten Phase wird die Trauer häufig von der Angst überlagert:

„Sie schaute mit einer Traurigkeit zu mir hoch, dass es mir weh tat. ‚Was ist mit mir los? Das passierte doch früher nicht. In Düsseldorf war alles in Ordnung. Oh Gott, warum bin ich bloß nach Haan gekommen.’ ‚Das hat nichts mit Haan zu tun. Du bist zeitweise etwas durcheinander.’‚Ich habe Angst, schreckliche Angst. Was soll ich tun? Wie geht es nun weiter?’“ (Schoene 1998, S. 80)

Der Schrecken über die erlebten Veränderungen und die Angst vor der zukünftigen Entwicklung steht für viele Menschen im Vordergrund. Das gilt für Betroffene wie Angehörige. Manchmal sind Angst und Schrecken so groß, dass das Gefühlsleben insgesamt gebremst wird. Über die Trauer und andere Gefühle wie die Scham legt sich dann der Schleier der Depression. Diese depressiven Entwicklungen werden zumeist nicht als solche erkannt, geschweige denn behandelt. Die Traurigkeit wird dann nicht mehr konkret geäußert, sondern ist allenfalls von den Begleitenden als Stimmung oder in der Atmosphäre erahnbar.

Wenn die demenzielle Entwicklung nicht in eine reaktive Depression hinübergleitet, steht in der zweiten Phase die Trauer mehr im Vordergrund. Hier ist sie häufig mit Wut und Ärger verknüpft, verbirgt sich oft hinter aggressiven Äußerungen. Eine Szene aus einem Altenheim:

Frau M. erzählt schimpfend einer anderen Frau: „Alles muss ich alleine machen. Bei nichts wird mir geholfen. Morgens komme ich immer als Letzte dran und dann haben sie keine Zeit mehr …“ Während sie erzählt, steigert sie sich immer weiter in ihren Ärger hinein. „Ich hab immer so viel alleine gemacht. Jetzt, wo man mal jemanden braucht, ist keiner mehr da. Für mich sind die nie da.“ Dann beginnt sie zu weinen. Und damit kommt das Gefühl zum Vorschein, das sich hinter ihrem Schimpfen verborgen hat, ihre Traurigkeit darüber, dass „keiner mehr da“ ist, keiner von den Menschen, die sie liebte und denen sie vertraute. (Baer, Schotte 2010, S. 40)

Ähnliche Verknüpfungen von hilfloser Wut und Traurigkeit begegnen wir auch bei manchen Angehörigen:

Mit einer gehörigen Portion Wut erzählt die Angehörige: „Ich wollte lange nicht wahrhaben, dass mein Mann an Alzheimer erkrankt ist. Ich glaube, ich will es immer noch nicht. Es macht mich so wütend. Haben wir nicht schon genug erlebt? … Ich kann es nicht haben, wenn er dann so vor mir steht und mich auch noch traurig anguckt. Das muss er doch noch können. Er hat sich extra einen Zettel gemacht und doch bringt er es wieder falsch. Das macht mich verrückt. Das ist doch nicht so schwer. Dann guckt er mich nur traurig an und steht immer hinter mir.“
Dann fährt sie mit trauriger Stimme fort: „Ich bin doch nun eigentlich auch so was wie ein Single. Ich habe doch keinen Mann mehr, mit dem ich reden kann. Ich habe keinen Gesprächspartner mehr. Ich habe Angst vor dem, was kommt.“ (Baer, Schotte 2010, S. 43)

In der folgenden Phase demenzieller Entwicklung gelingt es den Betroffenen seltener, Verbindungen zwischen dem Früheren und dem gegenwärtig Erlebten herzustellen. Wenn das, wovon losgelassen wird, immer weniger zugänglich wird, dann verliert auch das Gefühl des Loslassens an Kraft und vor allem an Nachhaltigkeit.

„Hatte sie in einer früheren Phase der Krankheit viel geweint, so hörte man jetzt manchmal nur ein kurzes Schluchzen, dem aber keine Träne folgte. Es war offenbar sofort wieder vergessen.“ (Funke 1998, S. 75)

Demenz beinhaltet, von vielem loszulassen. Da Trauer das Gefühl des Loslassens ist, muss Trauer die demenzielle Entwicklung begleiten. Doch es gibt darüber hinaus einen weiteren Zusammenhang zwischen Demenz und Trauer, der eine genauere Betrachtung wert ist.

Verlust von Geborgenheit, unlebbare Trauer und Demenzschübe

Praktiker beobachten häufig, dass alte Menschen einen Schub der Desorientierung und Beunruhigung erleiden, wenn es Veränderungen in ihren Lebensumständen gibt. Welche Veränderungen sind dies?

Frau Müss hat ihren 76jährigen Mann verloren. Es ging ganz plötzlich, ein Schlaganfall, ohne dass Zeit war, voneinander Abschied zu nehmen. Sie wirkte in den ersten wie vor Schreck erstarrt, mehr erschrocken als trauernd. Bei der Beerdigung dann brach der Schmerz aus ihr heraus, mit Tränen und mit Schluchzen, laut und heftig. Doch in den Tagen danach verstummte sie, wurde apathisch, saß in ihrem Sessel und brütete vor sich hin. Und dann begann die Desorientierung, die Verwirrung nahm zu. Die Angehörigen führten das zuerst auf den Stress zurück, doch nach und nach wurde deutlich, dass sich eine schnelle demenzielle Entwicklung anbahnte …

Solchen Veränderungen begegnen wir häufig nach Verlusten, v.a. nach plötzlichen Verlusten von liebgewordenen Angehörigen, manchmal auch Haustieren. Oft sind Menschen wie Frau Müss dann in ihrer Trauer gebremst. Manche haben nie gelernt, mit anderen gemeinsam zu trauern, für andere kommt der Verlust so plötzlich, dass der Schrecken die Trauer überlagert.

Herr Vogler wollte so lange wie möglich in seiner Wohnung bleiben. Seine Angehörigen unterstützen ihn darin und organisierten eine ambulante Pflege. Doch als er mehrmals aus dem Haus lief und nicht mehr zurück fand, begann sein Sohn, sich nach einem Platz in einem Heim umzuschauen. An einem Sonntag besuchte eine Nichte Herrn Vogler. Sie fand die Küche voller Rauch – die Kaffeemaschine war angeblieben und kokelte.
Nun ging es ganz schnell, Herr Vogler zog in ein Heim. Mit dem Tag des Umzuges verschlechterte sich sein Zustand rapide. Er erlitt einen Demenzschub. Seine Angehörigen besuchten ihn fast jeden Tag, doch sie fanden einen veränderten Vater bzw. Onkel vor. Dieser erkannte seinen Sohn kaum noch, verhielt sich aggressiv und lief unruhig schimpfend auf und ab.

Der Verlust der vertrauten Umgebung kann Demenzschübe hervorrufen. Das wissen alle, die mit alten Menschen zu tun haben. Entscheidend ist dabei der Verlust der Geborgenheit. Geborgenheit ist ein Gefühl, das aus Vertrautheit entsteht, aber mehr als Vertrautheit beinhaltet. Wenn Menschen lange Zeit in ihrem Zuhause wohnen, dann wird dieses „vertraut“ und „gewohnt“. Zur Geborgenheit gehören Vertrautheit und Vertrauen. Alles ist an seinem gewohnten Platz, die Geräusche sind ebenso bekannt wie die Atmosphäre. Wenn dann alles anders wird, dann wird dies oft als existenzielle Verunsicherung erlebt.

Zur Geborgenheit gehören Sicherheit, Wärme und Vertrauen (Baer, Frick-Baer 2012). Die Sicherheit ist in diesem Dreiklang grundlegend. Veränderungen sind für Menschen nicht nur Wechsel der äußeren Umgebung, sondern auch Änderungen in ihrem inneren Erleben. Mit dem Verlust der Geborgenheit verlieren die Menschen auch innere Sicherheit, mit dem Vertrauen in die Umgebung schwindet das Vertrauen in sich selbst, mit der Notwendigkeit der Umorientierung droht die Desorientierung.

Als Frau Schüttler im Pflegeheim nachts aufstand, fiel sie und brach sich den Oberschenkelhalsknochen. Sie musste ins Krankenhaus und wurde operiert. Dort bekam sie einen heftigen Demenzschub. Als sie zurück in das Heim kam, wirkte sie sehr verändert.

Die Desorientierung wurde sicherlich auch durch die Belastung durch die Operation und durch die Nachwirkungen der Narkose-Medikamente hervorgerufen. Doch auch als diese abklangen, blieb das neue, erhöhte Demenz-Plateau. Das ist verständlich, denn die Schmerzen und der Wechsel ins Krankenhaus sind ein Verlust der Geborgenheit. Die Atmosphäre in der Klinik war kalt und nicht warm. Sie kannte niemanden und konnte deshalb nicht vertrauen. Wir haben von älteren Menschen gehört, dass sie im Krankenhaus Angst hatten, weil sie z. B. die Geräusche im Flur nicht deuten konnten und den Weg zur Toilette nicht kannten.

Mit diese Verunsicherung schwand die Geborgenheit. Und schwindende Geborgenheit trägt zur Entwicklung demenzieller Prozesse bei oder verstärkt sie. Eigentlich stünde Loslassen und damit Trauern an. Doch häufig ist der Schrecken über den Verlust der Geborgenheit so groß, dass die betroffenen Menschen ähnlich wie bei einer traumatischen Bedrohung reagieren: Sie kämpfen und werden unruhig und aggressiv. Sie versuchen zu fliehen, was nicht gelingt. Oder sie erstarren. Letzteres meist nur äußerlich, während die Unruhe im Innern tobt.

In solchen traumaähnlichen Situationen und Reaktionen befindet sich der Organismus in einem Notfall-Modus. Wer meint, um Überleben kämpfen zu müssen, hat nicht den Raum zu trauern. Trauern wird in solchen Reaktionsweisen unlebbar. Was solche Menschen brauchen, ist intensive Begleitung von vertrauten Personen, damit soviel Sicherheit entsteht, dass Trauern überhaupt erst möglich wird. In den meisten Fällen gelingt dies nicht (oder wird gar nicht erst versucht), so dass Demenzschübe entstehen. Solche verstärkten Demenzentwicklungen können also auch in ungelebter oder unlebbarer Trauer wurzeln.

Trauernde begleiten: Die Haltung tätigen Mitgefühls

Jeder Verlust wird als einzigartig erlebt, zumindest zunächst einmal. Mag später durch den Austausch mit anderen Menschen deutlich werden, dass auch andere Verluste und Schmerzen erleiden, so wird doch jeder Verlust und jeder Schmerz als einzigartig und unermesslich erlebt. „Die andern wissen doch gar nicht, wie das ist“, sagte eine trauernd alte Frau. Die Einzigartigkeit des Erlebens fordert ihr Recht – und dagegen helfen keine noch so wohlgemeinten Worte.

Wenn Menschen loslassen müssen, fühlen sie einen individuell einzigartigen Schmerz. „Das Gefühl, mit dem Schmerz des Abschieds allein zu sein, lässt in vielen Menschen die Gewissheit entstehen, die Trauer nicht mit anderen teilen zu können. Diese Weg führt, wenn die Menschen auf ihm bleiben, in die Einsamkeit.“ (Baer, Frick-Baer 2008b, S. 105) Das wichtigste, was professionell Belgeitende für Trauernde tun können, besteht darin, die Einzigartigkeit der Trauer anzuerkennen und gleichzeitig Begleitung beim Trauern anzubieten.

Dies ist vor allem eine Haltung und weniger eine Frage bestimmter Methoden. Da sein und dabei sein, das reicht. Das ist scheinbar sehr wenig und ist gleichzeitig sehr viel. Trauernde Menschen spüren eine solche Haltung. Professionelle und private Begleiter/innen von Trauernden hören oft im nachhinein: „Es war gut, dass du einfach da warst. Ich hab mich allein gefühlt und du hattest oft keine Chance, an mich heran zu kommen. Aber ich habe gemerkt, dass mich unterstützen willst, und das war gut.“

W i e dieses Da-Sein und Dabei-Sein gestaltet wird, ist zweitrangig. Man kann sogar sagen, dass Trauerbegleiter/innen immer etwas „falsch“ machen. In der einen Situation ist es richtig, einfach nur zuzuhören. Einen Tag später wäre es „besser“, wenn die trauernde Person zu einem Spaziergang oder gar einem Kino-Besuch aufgefordert würde. Eine Haltung, die die Trauer und die Trauernden würdigt, muss nicht passiv sein. Wir reden deshalb von tätigem Mitgefühl, einem Mitgefühl, das tatkräftig unterstützt, das genauso Vorschläge machen und ermuntern kann wie die stumme Trauer teilen. Sie werden nie immer alles richtig machen können. Also versuchen Sie es gar nicht erst. Seien Sie mutig und eine „Zumutung“ (darin ist das Wort „Mut“ enthalten). Entscheidend ist die Haltung, mit der aktive Impulse angeboten werden. Wenn die Trauer mitfühlend akzeptiert wird, können sie unterstützen, die Trauer zu durchleben und zu überwinden. Wenn sie gegen die Trauer zielen, können Vorschläge wie Schläge wirken.

Manche Menschen wehren sich gegen Mitgefühl. Wir unterscheiden dann zwischen einem Mitleid, das oft von oben herab daher kommt und erniedrigend und herablassend wirken kann, und dem Mitgefühl, das schlicht „mitfühlen“ beinhaltet, auf gleicher Augenhöhe.

Im tätigen Mitgefühl sind Worte wichtig. Es hilft, anderen zuzuhören und Zuspruch zu geben. Doch genauso wichtig sind die Spürende Begegnungen als Begegnungen des Erlebens (Baer 2012, S. 195). Darunter verstehen wir besondere Qualitäten erlebter Begegnungen: Der Klang einer Stimme kann Trost spenden wie der Blick mitfühlender Augen. Ob die Berührung am Arm oder eine Umarmung, ob das Angebot, sich anzulehnen, oder der feste Händedruck – gerade bei Menschen mit Demenz sind solche Begegnungen der Ausdruck tätigen Mitgefühls, auch ohne dass es vieler Worte bedarf.

Und noch ein Hinweis sei wiederholt: Tätiges Mitgefühl ist der Garant dafür, dass eine Trauer nicht unendlich wird. Nach unseren Beobachtungen droht die Gefahr, dass Menschen leidend in ihrem Schmerz versinken, vor allem dann, wenn sie in ihrem Schmerz einsam sind und bleiben. Wer kein tätiges Mitgefühl erhält oder zulassen kann, in dem nistet sich die Trauer dauerhaft ein. Wer Trost und Unterstützung erfährt, dem mag die Trauer unendlich vorkommen, aber irgendwann verliert sie an Kraft.

Monika Dörfel hat in einem „Dokument des Mutes“ für die Teilnehmer/innen ihrer Trauergruppen und andere Trauernde sieben Hinweise aufgeschrieben, die sich in der Trauerbegleitung bewährt haben:

1. Gib Deiner Trauer Ausdruck!
Lass Deine Gefühle zu,
lass Deine Tränen fließen,
schrei Deine Trauer heraus,
löse Dich aus Deiner Versteinerung.

Deine Gefühle sind richtig.

2. Klage laut Deine Gedanken!
Sprich über Deine Trauer mit Menschen,
die Dich verstehen.
Sag immer und immer wieder, was Dich bewegt.
Klage über Deine Sehnsucht und Wut,
über Deine Angst und Einsamkeit,
über Deine Gedanken an Schuld und Unfähigkeit.

Akzeptiere Deinen Schmerz und Deine Verzweiflung,
sie gehören zur Trauer dazu.

Du bist in Ordnung, so wie Du bist!

3. Nimm Abschied!
Es ist wahr, Dein liebster Mensch ist gestorben.
Er ist tot.
Er wird nicht wiederkommen und ihr werdet
nie mehr gemeinsam etwas unternehmen können.
Stell Dich diesen Gedanken.

Akzeptiere den Tod Deines liebsten Menschen.
Akzeptiere Deine Ohnmacht.

Deine Trauer hat ihre Berechtigung!

4. Schreibe Deine Gedanken in ein Tagebuch!
Lass all das, was Dich bewegt in Deine Feder fließen,
all Deine Sehnsüchte und all Deine Ängste.
Schreibe Deinem Verstorbenen alles,
was Du ihm noch sagen wolltest oder willst.
Lass Deine Gedanken los und vertraue sie dem Papier an.

Bleibe im Gespräch mit Deinem lieben Verstorbenen!

5. Sorge für Dich!
Steh auf und kämm Dein Haar.
Trinke einen Tee und iss etwas Obst.
Atme tief ein und aus, bewege Dich an frischer Luft.
Es ist normal, wenn Du verzweifelt bist und Dir selber fremd,
wenn Du Dich als „ver-rückt“ empfindest.

Tue heute etwas für Dich!

6. Suche nach einem neuen Lebenssinn!
Du wirst vielleicht heute keinen Sinn in Deinem Leben sehen.
Es ist menschlich, Neid und Bitterkeit gegenüber den
Menschen zu empfinden, die nicht diesen Verlust erlitten haben.
Verachte Dich deshalb nicht.

Deine Trauer stellt Dich vor eine enorme Herausforderung!

7. Bleibe nicht allein in Deiner Trauer!
Ruf Freunde und Freundinnen an, geh zu Nachbarn.
Bitte um Hilfe. – Halte Kontakt.
Nimm Angebote ernst,
z. B. bei Tag und Nacht anrufen zu dürfen.
Suche Menschen, die Deine Trauer teilen,
die Dich verstehen,
z. B. in einer Trauergruppe.

Du lebst bewusster und einfühlsamer!
Du hast Dich durch die Trauer verändert!
Du hast Dich für das Leben entschieden!
(Dörfel 2003, S. 2)

Trauernde begleiten: Das große UND sowie die Unterscheidungen

Viele Menschen glauben, bei Gefühlen müsse es ein Entweder-Oder geben:

„Ich bin froh, dass die Qualen meiner Frau endlich ein Ende haben“, sagte eine Mann, dessen Frau nach langer Krankheit gestorben war. „Doch das darf ich doch gar nicht. Ich hätte sie doch gern noch länger bei mir gehabt. Jeder Tag war kostbar. Ich bin unendlich traurig.“

Meiner Meinung gibt es hier kein Entweder-Oder, sondern ein großes UND. Der Mann ist erleichtert UND er ist traurig. Beides kann in der Landschaft der Trauergefühle nebeneinander stehen. Auch dies ist eine der Besonderheiten der Grammatik der Gefühle.

Wenn wir Trauernden die „Erlaubnis“ geben, mit scheinbar widersprüchlichen Gefühlen nicht mehr zu hadern, sondern sie mit dem großen UND nebeneinander zu stellen und zu akzeptieren, dann bewirkt dies oft große Erleichterung. Wenn zu dem Schmerz des Loslassen noch der Druck kommt, vermeintlich „richtig“ zu fühlen, dann überfordert das viele Menschen. Die Gefühle zu akzeptieren, wie sie sind, erleichtert.

Auch wenn Fachkräfte in der Pflege oder Sozialarbeit oder Angehörige Trauernde begleiten, ist das UND hilfreich. Sie können sagen: „Ja, Ihr Schmerz ist schlimm und ihr Verlust ist traurig. UND es wird ein Leben danach geben.“ Oder: „Ich setze mich einfach neben Sie und halte einfach Ihre Hand, während Sie weinen … UND nun gehen wir einen Kaffee trinken.“

Hilfreich ist auch die Unterscheidung zwischen dem, was Menschen nicht beeinflussen können, und dem, was sie verändern können. Vieles können wir Menschen nicht ändern: dass Angehörige oder Freund/innen sterben, dass es Krankheiten gibt, dass eine Wohnung verlassen wird, dass „das Gedächtnis nicht mehr so funktioniert“ … Das zu ändern, steht nicht in unserer Macht. Also schlagen wir vor, dies hinzunehmen und zu trauern. UND es gibt eine andere Seite, den Bereich, in dem wir wirksam sind, in dem wir etwas tun können: dass das neue Zimmer ein Zuhause wird, dass das Andenken einer geliebten Person geehrt wird, dass zum Lachen der Enkel beigetragen wird …

Im unmittelbaren Schmerz eines Verlustes wird diese Unterscheidung (mit dem großen UND dazwischen) häufig abgewehrt. Doch etwas später ist sie meist sehr hilfreich, um sowohl der Trauer den gebührenden Raum zu geben als auch die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wo Menschen aktiv und wirksam sein können. Das gilt auch für eine weitere Unterscheidung: Wenn Menschen etwas verlieren, behalten sie auch etwas. Zu jedem Loslassen gehört ein Festhalten. Das Glas ist halb leer UND halb voll. Wer einen Partner oder eine Partnerin verliert, behält die Erinnerungen, das gemeinsame Erleben, Fotos, Gegenstände, v.a. aber das, was er im Herzen trägt. Wenn der linke Arm zittert und keine Tasse mehr halten kann, ist das schlimm und traurig. UND de rechte Arm zittert nicht und kann die Tasse halten.

Wenn wir mit diesen Differenzierungen und dem UND Trauerbegleitung versuchen, dann vermeiden wir einen eingeengten Blick. Wir können dann einerseits die Trauer ernst nehmen und ihr Raum lassen UND wir können den Blick der Gegenwart und der Zukunft zuwenden.
Trauernde begleiten: das eigene Maß

Menschen trauern auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maß. Frau Maier trauert unendlich um ihren verstorbenen Mann, während Frau Kubizec drei, vier Monate nach der Beerdigung ihres Partners auflebt und neue Wege beschreitet. Wer mag darüber urteilen, was „richtig“ oder „angemessen“ ist? Wir betonen deshalb in der Grammatik der Gefühle, dass Gefühle ihrem Charakter nach maßlos sind:

„Offenkundig lehrt uns die Alltagserfahrung, dass es für die Innenwelt der Gefühle keine objektivierbaren Meßlatten gibt. Offenkundig ist das Maß der Gefühle radikal subjektiv – also sollten wir dies als eine Regel der emotionalen Grammatik akzeptieren. Auch wenn andere Menschen immer besser zu wissen scheinen, wie viel Gefühl denn nun angemessen ist – unsere Gefühle sind nicht messbar, nicht vergleichbar, nicht quantifizierbar. Gefühle sind von ihrem Wesen her maßlos.
Allerdings unterliegt der emotionale Ausdruck, wie eben schon erwähnt, den Maßregelungen der Gesellschaft oder sozialer Subkulturen. (…) Die Widersprüchlichkeit zwischen dem maßlosen Charakter der Emotionalität und sozialen Normen und Erwartungen, zwischen Innen- und Außenwelt, führt häufig zu Kränkungen und Leiden. Jede Regelung der Gefühle und ihres Ausdrucks ist eine Maßregelung – unabhängig davon, ob gut oder schlecht, einengend oder notwendig, sinnvoll oder unnötig: dessen sollte man sich innerhalb der eigenen Gefühlswelt und gegenüber der anderer bewusst sein.“ (Baer, Frick-Baer 2008a)

All das gilt für die Trauer und Begleitung Trauernder. Die Trauer eines jeden Menschen ist radikal subjektiv und unterschiedlich intensiv oder lang. Sie ist nicht messbar daran, welche Art von Verlust jemand erlitten hat.

„Schau mal, es ist doch nicht so schlimm, dass du aus der Wohnung raus musstest. Du hast doch immer geschimpft, dass der Verkehrslärm immer stärker wurde“, sagte der Sohn zu seiner Mutter, die ihrer alten Wohnung nachtrauerte. „Das verstehst du nicht“, antwortete sie, „das war doch meine.“

Die Frage des Ausmaßes der Traurigkeit, die durch das Verlassen einer Wohnung hervorgerufen wird, ist keine Angelegenheit kognitiven Verstehens. Ihr Maß wird beeinflusst durch die emotionale Bedeutung, die die Mutter ihrer früheren Wohnung gab und gibt – und diese ist subjektiv. Sie kann nur subjektiv sein, geprägt durch Lebenserfahrungen und individuelle Leiblichkeit. Der Sohn hat in den letzten Jahren mehrmals seine Wohnung gewechselt, je nach Lebensumständen, Arbeitsplätzen und Liebesbeziehungen. Seine Mutter war in ihrer Wohnung verwurzelt, die Wohnung stand für Eigenständigkeit und war ein „Stück von mir“, wie sie sagte. Deswegen muss die Trauer unterschiedlich sein und unterschiedlich bewertet werden. (Deswegen halten wir auch nichts von den sogenannten Trauerphasen, die durchlebt werden müssen. Sie wurden von Frau Kübler-Ross aus der Beobachtung von Sterbenden abgeleitet und wurden danach auf alle Trauerprozesse übertragen. Mögen sie einzelne Prozesse treffend beschreiben, so halten sich doch viele – wir meinen: die meisten – Menschen nicht an diese Prozessabfolgen. Deswegen ist es schädlich, sie schematisch auf alle Trauerprozesse zu übertragen. Diese sind so verschieden, wie Menschen unterschiedlich sind.)

Um diese Unterschiedlichkeit zu wissen, ist für professionelle Begleiter/innen wichtig. Was für den Begleiter oder die Begleiterin „genug“ der Trauer ist, muss für die Klient/innen oder Patient/innen noch lange nicht gelten. Dies ist wichtig zu wissen und zu respektieren.

Gleiches gilt für gesellschaftliche Normen des Trauerns. Wir nicht oder wenig sichtbar trauert, wird oft misstrauisch beäugt. Wer „zu lange“ oder „zu heftig“ trauert, wird manchmal pathologisiert.

„In einem langen Interview erzählt Lauren Bacall, wie lange sie um ihren Partner Humphrey Bogart getrauert hat. ,Am besten hat es David Niven beschrieben’, (Bacall 2002, S. 21) der früh seine Frau durch einen Sturz die Kellertreppe hinab verloren hatte. Sie zitiert ihn: ,Du kommst nie darüber hinweg. Du vergisst es nie. Was aber passiert, hängt wie ein Bild zehn Jahre an derselben Stelle, und eines Tages bist du in der Lage, das Bild an eine andere Stelle zu hängen. Du hast das Bild nach wie vor, aber du kannst damit leben, dass es nicht mehr da ist, wo es immer war.’ (a.a.O.)
Dies ist eine treffende Beschreibung, was es bedeutet, in einem langwierigen Trauerprozess von einem Menschen – aber auch von einer traumatischen Situation oder von den Bildern schlimmer und schöner Erfahrungen – Abschied zu nehmen und ihn – oder sie – dabei zu würdigen. ,Das Bild an eine andere Stelle hängen’ ist ein Prozess, der Zeit benötigt.“ (Baer, Frick-Baer 2008b, S. 151)

In diesem Prozess brauchen Trauernde andere Menschen, die sie begleiten und die Trauer würdigen. Das umfasst die Gewissheit, dass das Bild irgendwann an einer anderen Stelle hängen wird.

Wenn Begleitende diese Grundhaltung vermitteln, dass wird sie auch nicht irritieren, dass scheinbar plötzlich „Traueranfälle“ entstehen, „wie aus dem Nichts“. Der Gedanke, dass die Klientin oder der Klient über einen Verlust „hinweggekommen“ist, mag erleichtern, auch als Ausdruck einer fürsorglichen Haltung gegenüber den Menschen, die begleitet werden. Und dann sind plötzlich Trauer und Schmerz wieder da.

Manche Begleiter/innen denken oder sagen dann: „Dafür gibt es doch gar keinen Grund.“ Doch das ist falsch. Gefühle brauchen keinen Grund, sie unterwerfen sich nicht den Gesetzen der Logik. Nach der formalen Logik muss jedes Geschehen einen Grund haben. Ist dieser nicht feststellbar, wird das Geschehen wie hier das Trauern oft als „überflüssig“ oder „sinnlos“ angesehen. Doch Gefühle brauchen keinen Grund, das ist eine der Regeln der Grammatik der Gefühle. Die Frage nach dem „Warum“ ist überflüssig und geht an dem Gefühlsleben vorbei.

Gefühle wie die Trauer können bei einem Menschen so in den Hintergrund treten, dass sie kaum noch oder nicht mehr wahrgenommen werden. Und dann machen sie sich wieder bemerkbar. Dazu braucht es keinen Grund, meist gibt es aber einen Anlass. Das mag ein Jahrestag sein oder der Duft eines Croissants, der eine Erinnerung an eine geliebte Person aufsteigen lässt, die zu einem Trauerausbruch führt. Ich habe einmal erlebt, wie eine demenziell erkrankte Frau im Ruhrgebiet zu ihrem Geburtstag extra Mohnkuchen gebacken bekam. Als sie den Duft des noch warmen Mohns roch, begann sie bitterlich zu weinen. Die Umstehenden reagierten verwundert bis verstört und fanden keine Erklärung. Schließlich stellte sich heraus, dass die Frau aus Schlesien kam und manchmal ihrer alten Heimat nachtrauerte. Der Duft des Mohnkuchens musste diese Erinnerung ausgelöst haben: Mohngerichte kamen mit den Vertriebenen nach dem Krieg in den Westen und Süden Deutschland; vorher waren sie dort unbekannt.

Nun lassen sich solche Trauer-Trigger nicht vermeiden und professionell Begleitende sollten sich auch gar nicht erst darum bemühen. Bei den meisten alten Menschen kennen wir die jeweiligen Trauer-Auslöser nicht und insbesondere demenziell Erkrankte können wir nur schwerlich befragen. Entscheidend ist nicht, ob professionelle Belgeiter/innen solche Anlässe vermeiden, entscheidend ist, dass sie mit ihnen würdigend umgehen. Die Trauer ist zu akzeptieren, ohne dass versucht wird, sie zu verniedliche oder weg zu argumentieren. Trauer braucht Trost und tätiges Mitgefühl, ganz gleich, ob sie einen „Grund“ hat oder nicht.

Trauernde begleiten: Wenn Worte allein nicht reichen

Worte sind in der Begleitung Trauernder wichtig, doch oft reichen sie allein nicht. Insbesondere bei Menschen mit Demenz ist es wichtig und notwendig, die vielfältigen Möglichkeiten der Arbeit mit Gesten, Klängen und Bildern zu nutzen. Einige solcher Wege möchte ich abschließend hier vorstellen.

Lieder und andere musikalische Klänge bleiben als Teil des menschlichen Leibgedächtnisses zugänglich, auch wenn das kognitive Gedächtnis Einschränkungen unterliegt.

Frau Senneberg ist dement. Und traurig, immerzu traurig. Die Betreuerin weiß, dass sie um ihren Mann trauert, der vor zwei Jahren gestorben ist. Frau Senneberg kann über ihre Trauer nicht mehr sprechen, doch die Betreuerin sieht die Trauer in deren Augen. Sie greift Frau Sennebergs Hand und fragt: „Sie sind traurig, nicht wahr?“ Frau Senneberg nickt. Die Betreuerin sagt: „Sie haben doch immer gern gesungen. Wollen wir gemeinsam Ihrem Mann ein Ständchen singen? Ein Lied für ihn?“ Frau Senneberg guckt erstaunt, dann greift sie die Hand der Betreuerin fester. Diese nimmt dies als Zustimmung und schlägt einige Lieder vor, von denen sie weiß oder vermutet, dass Frau Senneberg sie mag. „Ich singe oder summe Ihnen einige Lieder vor. Wählen Sie eins aus, das Ihrem Mann gefallen hätte.“
Schon beim dritten Lied nickt Frau Senneberg heftig. Beide singen nun: „Der Mond ist aufgegangen …“. Dabei weint Frau Senneberg, doch danach versiegen die Tränen. Dieses Lied wird zu einem Ritual, wenn Frau Senneberg traurig ist.

Auch Lieder oder Musikstücke, die im früheren Leben bedeutsam waren, können den Trauerprozess unterstützen. Die Musiktherapeutin Christiane Hecker erzählt in einem Vortrag von einer Erfahrung in einem Hospiz:

Frau Becker (76) ist krankheitsbedingt bettlägerig. Sie ist seit der Geburt blind und bekommt jeden Nachmittag Besuch von ihrem beinahe vollständig erblindeten Mann, der ihr sehr liebevoll zugewandt ist. Bei unserer ersten Begegnung war sie alleine und wir konnten über die Töne der Kalimba, die sie sehr berührten, eine Verbindung zueinander herstellen. In der folgenden Woche einigten sich Frau und Herr Becker auf Chormusik (Mendelssohn-Bartholdy, „O beata et benedicta“/„Hebe deine Augen auf“), die sie beide ruhig und ganz auf die Musik konzentriert anhörten.
Acht Tage später – bei meiner letzten Begegnung – ist Frau Becker bedeutend schwächer, aber sehr aufgeschlossen. Das Ehepaar erzählt von früheren Zeiten, in denen sie begeisterte Tänzer waren … „am liebsten Walzer“. Auf Nachfrage lege ich J. Strauss „Wiener Blut“ auf. Beim Zuhören wirken beide wortlos innig miteinander verbunden und scheinen beinahe „feierlich versonnen“ entrückt zu sein. Sie erzählen danach rege von vielen Tanzabenden und -wochenenden, die sie gemeinsam mit anderen erblindeten Paaren verbracht haben
Ein zweiter Walzer wird gewünscht, J. Strauss, „Frühlingsstimmen“. – Es ist Ende Oktober! – Und nach den ersten Takten fragt Herr Becker leise und mit ganz viel Wärme in der Stimme: „Darf ich bitten, Margarete?“ Mein Eindruck ist, dass beide unsichtbar und doch deutlich spürbar aus dem Zimmer hinaustanzen, sich aus der Realität lösen, woanders hin, irgendwie nicht mehr da sind.
So erinnert Musik auch hier an vergangene schöne Zeiten, weckt Gefühle und führt weg aus den krankheitsbedingten Einschränkungen und der Begrenztheit des Hospizes in eine andere Welt. Und sie stellt eine Verbindung her zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die den Lebens- und Sterbeprozess begleiten kann.

Klänge verbinden. Mit Liedern und anderen Klängen, eigenen wie vorgespielten, können Menschen sich verbinden. Mit Lebenden wie mit Verstorbenen.

Ein anderer Weg, über das Wort hinaus einen Trauerprozess zu begleiten, besteht im künstlerischen Gestalten. Das Malen von Bildern, die dem Gedenken Verstorbener dienen, oder die künstlerische Umrandung von Fotos der Heimat sind nur einige von zahlreichen Möglichkeiten. Gerne gestalte ich mit trauernden alten Menschen – mit oder ohne Demenz – ein Tränenkrüglein:

„Einer Klientin, deren Tränen nicht aufhören wollten zu fließen, die sich von ihrer Trauer überflutet vorkam, las der Therapeut das Gedicht vom ,Tränenkrüglein’ von Rainer Maria Rilke vor. Es lautet:

Tränenkrüglein

Andere fassen den Wein,
andere fassen die Öle
in dem gehöhlten Gewölbe, das ihre Wandung umschrieb.
Ich, als ein kleineres Maß und als Schlankeste, höhle mich einem anderen Bedarf, stürzenden Tränen zu lieb.

Diese Klientin nahm dies Gedicht, nahm die Vorstellung eines Krügleins, das eigens dazu da war, ihre Tränen aufzufangen und zu sammeln, als Geschenk an. Immer wenn sie von einem Tränenschwall überflutet wurde, schrieb sie einen Satz auf einen kleinen Zettel und legte ihn in einen kleinen Krug, den sie neben das Bild des Menschen, um den sie trauerte, gestellt hatte.“ Baer, Frick-Baer 2008b, S. 148)

Das Tränenkrüglein wird zumeist aus Ton oder anderen Materialien gestaltet, die leicht trocknen und fest werden. Die Form ist so unterschiedlich wie Menschen fühlen. Die trauernden Menschen stellen sich ihr Tränenkrüglein oft an einen besonderen Platz in ihr Zimmer.

Auch das poetische Wort kann große Bedeutung im Trauerprozess haben. Liedtexte sind wichtig, Gedichte ebenso. Menschen, die dies können, nutzen Tagebuchaufzeichnungen oder schreiben Briefe: an die früheren Lebensgefährten, an die alte Heimat, an all das, was verloren ist und wovon sie loslassen müssen. Menschen mit Demenz sind dazu irgendwann nicht mehr in der Lage. Doch auch hier gibt es Wege:

Herr Schlupf sprach wenig. Er trauerte um seine Frau Helene. Als ihr ein professioneller Begleiter darauf ansprach, genoss es Herr Schlupf, dass seine Trauer gesehen und geteilt wurde. Der Begleiter wusste, dass die Frau von Herrn Schlupf sehr plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben war. Er fragte Herrn Schlupf, ob er seiner Frau etwas schreiben wollte. Dieser zuckte erst hilflos mit der Schulter. Der Betreuer bot ihn, für ihn etwas aufzuschreiben: „Was würden Sie Ihrer Frau gern sagen?“ Herr Schlupf antwortete: „Hab dich lieb.“ Der Begleiter schrieb dies auf ein DIN A4-Blatt und rahmte es ein. Seitdem steht dieses Blatt im Rahmen auf dem Tisch von Herrn Schlupf. Herr Schlupf weiß den Namen seiner Frau nicht mehr, aber er berührt oft das Blatt und streicht zart über den Rahmen …

Literatur:

Bacall, L. (2002): „Die meisten Prachtkerle sind tot“. Interview. In: Süddeutsche Zeitung. Das Magazin, Nr. 33, 16.8.2002, S. 6ff
Baer, U. (2010): Innenwelten der Demenz. Neukirchen-Vluyn
Baer, U. (2012): Kreative Leibtherapie. Das Lehrbuch. Neukirchen-Vluyn
Baer, U.; Frick-Baer, G. (2008a): Das ABC der Gefühle. Weinheim
Baer, U.; Frick-Baer, G. (2008b): Vom Trauern und Loslassen. Weinheim
Baer, U.; Frick-Baer, G. (2012): Das Wunder der Geborgenheit. Weinheim
Baer, U.; Schotte, G. (2010/2012): Das Herz wird nicht dement. Weinheim
Dörfel, M. (2003): Ein Dokument des Mutes. Orientierungshilfen für Trauernde. Hattingen
Fuchs, T (2000): Leib, Raum, Person. Entwurf einer Phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart
Funke, A. (1998): Mit der Alzheimer-Krankheit leben: ein Erfahrungsbericht. Bielefeld
Schoene, A. (1998): Meine Mutter hat Alzheimer. Frankfurt/M
Rose, L. (1997): Ich habe Alzheimer. Ein Bericht. Freiburg
Wolfersdorf, M. (2004). Interview. In: Psychologie heute, Januar 2004, S. 64f

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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