Für Dich soll`s rote Rosen regnen … Teil 2

Eine Geschichte über leiborientierte Musiktherapie in der Praxis in 3 Teilen

Nach ca. 1 ½ Jahren zieht seine Frau zu ihm und zu uns auf die Pflegestation. Ihre Demenz ist fortgeschritten und sie kann nicht mehr zu Hause betreut werden. Zunächst ist das Ehepaar glücklich, wieder vereint zu sein. Jedoch der Umstand, nach über 80 Jahren das vertraute Heim (es ist ihr Elternhaus, in dem das Ehepaar über 60 Jahre lang zusammen lebte) verlassen zu müssen, leistete der Demenz einen erneuten Schub. Frau Schmitz konnte sich nicht einfinden.

Glücklich und „angekommen“ wirkte sie nur, wenn sie mit ihrem Mann gemeinsam gesungen hat. Oft stimmte Herr Schmitz die ersten Takte eines  „ihrer“ Lieder an, wenn sie den Anfang vergessen hatte. Die Atmosphäre, die dann entstand, ist mit Worten kaum wiederzugeben. Im Singen, mit den Klängen veränderte sich ihre Körperhaltung. Sie setzte sich aufrecht und gerade hin, ihre Augen glänzten und strahlten mit ihrem Lachen um die Wette. Ihre Präsenz war in diesen Momenten stärker als die ihres Mannes. Angehörige anderer Bewohner/innen blieben stehen, klatschten Beifall, sangen mit oder erinnerten sich, das Ehepaar auf Hochzeiten oder Festen gesehen und gehört zu haben. Das waren die wunderbaren Momente, in denen sie sich gesehen fühlten. Ihr Lebensstolz war dann sichtbar und spürbar.

Als ihr Gesundheitszustand sich verschlechterte und sie ins nahegelegene Krankenhaus gebracht werden musste, litten beide auf ihre eigene Weise.

Ich besuchte Frau Schmitz im Krankenhaus, sie ist desorientiert, voller Unruhe, bringt mich aber mit ihrem Mann in Verbindung und fragt immer wieder voller Sorge, ob es ihrem Mann auch gut gehe und wo er denn sei. Ich spüre ihre große Not und Verzweiflung und verspreche ihr, dass ich sie am nächsten Tag mit ihrem Mann zusammen besuchen werde.

Zunächst kann (oder will?) Herr Schmitz seine Frau nicht im Krankenhaus besuchen. Es geht ihm nicht gut; die Schmerzen im Bein haben zugenommen. Er lehnt ab – den Weg ins Krankenhaus „über`s Ruckelpflaster“ hält er nicht für durchführbar. Ich sitze an seinem Bett und mein Blick fällt auf ein neues Foto, das auf seinem Nachtschränkchen steht. Es zeigt Frau und Herrn Schmitz im Abendkleid bzw. schwarzen Anzug bei einem Auftritt auf der Bühne im mittleren Alter. Daneben steht noch ein Bild von Herrn Schmitz (nicht im Bilderrahmen), auch auf der Bühne, die Arme seitlich ausholend mit den Handflächen nach oben.

Ich frage ihn, ob ich mir die Fotos genauer ansehen darf. Ich darf – und meiner Resonanz folgend bleibt mein Blick auf dem Foto hängen, das ihn alleine zeigt. „Was ist denn da so Besonderes?“, fragt Herr Schmitz. Für mich ist auf diesem Foto vor allem die Geste interessant und ich bitte ihn, ob er diese Geste (die nach vorne halboffenen ausgestreckten Hände) noch einmal einnehmen möchte.  Er will es versuchen – und auch jetzt im hohen Alter im Rollstuhl strahlt er mit dieser Geste eine unglaubliche Sicherheit und Würde aus. Er strahlt sie nicht nur aus, er spürt sie auch, denn plötzlich sind alle Schmerzen vergessen. Mit der Geste erinnert er, dass er das Lied „Du bist die Welt für mich“ gesungen hat. Ich brauche nicht lange zu bitten und jetzt begleitet er seine Geste mit dem genannten Lied.

Als das Lied verklungen ist und ich Beifall geklatscht habe, berichtet er mir von seinem großen Vorbild Fritz Wunderlich. Er hat auch so auf der Bühne gestanden. „Was war für sie das Besondere an Fritz Wunderlich“? frage ich ihn. „Er hat es wie kein anderer geschafft, die Menschen zu begeistern; er hat ihnen Freude bereitet“, war seine Antwort. Es ist für mich spürbar, wie wichtig es ihm ist, „wahrgenommen zu werden“, „angeschaut zu werden“. Ich erinnere ihn, wie gerne er mich auf Zimmerbesuchen begleitet hat, er anderen ein Ständchen gebracht hat. Und ich versichere ihm und spreche es öfter deutlich aus, wie vielen Menschen er Freude gemacht hat mit seinem Gesang – genau wie sein Idol Fritz Wunderlich. Erinnere ihn an das Ehepaar, das ihn wiedererkannt hatte. Er hatte vor etwa 35 Jahren auf ihrer Hochzeit gesungen. Gemeinsam überlegen wir, wie viele unzählbare Spuren, wunderbare Stunden und Momente er vielen Menschen geschenkt hat. Und dann erinnert er sich an den „kleinen Hans“. Er war das jüngste von acht Geschwistern und musste sich immer besonders anstrengen, um von seinen Eltern und größeren Geschwistern gesehen zu werden. So fühlte er sich auch jetzt in seiner Pflegebedürftigkeit nicht mehr ganz gesehen, nur über die Pflege wahrgenommen. Die Geste auf dem Foto hat ihn an seinen Lebensstolz erinnert – sein Leibgedächtnis mobilisiert.

Die Schmerzen sind für ihn nun gut aushaltbar bzw. vergessen – ich helfe ihm beim Anziehen und wir können seine Frau im Krankenhaus besuchen.

Die Szenen, die ich mit Herrn Schmitz im Krankenhaus erlebte, werde ich wohl nie in meinem Leben vergessen.

Nach bewegender Begrüßung – zunächst aus kurzer Entfernung bittet mich Frau Schmitz (und sie erinnert meinen Vornamen!): „Gitta, bring mir den Papi ein bisschen näher, ich will ihn berühren“. Ein Blick in ihre Augen – ich habe verstanden und wir haben die  kleinen Hindernisse, die so ein „charmantes Krankenhaus-3-Bett-Zimmer“ bietet, überwunden. Der Rollstuhl will zunächst nicht zwischen die Betten (Frau Schmitz liegt in dem mittleren Bett) passen.

Kurzerhand schiebe ich die beiden äußeren Betten auseinander (die darin befindlichen Damen verstehen zum Glück die Situation). Es ist geschafft – sie im Bett, er im Rollstuhl vor dem Bett – so kann sich dieses Ehepaar berühren; sie greifen nach ihren Händen. Und sie singen und singen.

An den Händen einander festhaltend und so Halt gebend hat sich dieses Ehepaar (fast 64 Jahre verheiratet) alles von Herzen und zu Herzen gehend von der Seele gesungen, was sie sich nicht sagen konnten oder wollten – in diesem Raum mit anderen, für sie fremden Personen.

Lieder wie: Dein ist mein ganzes Herz; Schenkt man sich Rosen in Tirol; Du bist die Welt für mich; Sag zum Abschied leise Servus und auch wieder: Ich möchte zu Fuß nach Kölle jonn (entsprungen dem Gefühl der Krise und der Sehnsucht als Coping wie damals im Krieg) erfüllen zunächst den Raum. Dann öffnet sich die Zimmertüre und eine Schwester fragt, ob sie die Türe geöffnet lassen darf, damit andere Patienten auch mithören können. Mitpatient/innen, Ärzt/innen, Schwestern und Pfleger werden wie von Magneten angezogen und füllen ergriffen das Zimmer. Die beiden singen aus ihrer Seele – voller Emotionen. An diesem Tag (und es folgten noch einige) wurden sie gesehen und gehört und mit ihrer Stimme, mit ihrer wunderbaren Gabe (die Herr Schmitz so an Fritz Wunderlich schätzt) wahrgenommen.

 

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