- Für Dich soll`s rote Rosen regnen … Teil 1
- Für Dich soll`s rote Rosen regnen … Teil 2
- Für Dich soll`s rote Rosen regnen … Teil 3
Eine Geschichte über leiborientierte Musiktherapie in der Praxis in 3 Teilen
Wieder „zu Hause“ im Heim konnte Frau Schmitz sich nicht erholen; sie starb in einer der nächsten Nächte und Herr Schmitz war bei ihr. Als äußeres Zeichen seiner Trauer traf man Herrn Schmitz tagsüber, bis zum Tag der Beerdigung – mit seiner Mundharmonika – in der Eingangshalle vor dem Kondolenzbuch.
Zur Beerdigung begleite ich Herrn Schmitz. Vor dem Aufzug, wir wollten gerade aufbrechen, kramt Herr Schmitz in seinen Taschen, zunehmend aufgeregter, und dann seine bange Frage: „Wo ist meine Mundharmonika? Ich fahre nicht ohne!“
Ahnend, was ihn bewegt und später geschehen würde (kann ich das aushalten?), hole ich mit klammem Gefühl seine Mundharmonika.
Ich darf ihn bis vor die Kapelle fahren. Im Mittelschiff der Kapelle will er alleine fahren. Und er fährt – mit deutlich sichtbarer, spürbarer Würde – bis ganz vorne zum Altar, zum Sarg seiner Frau. Er weint, spricht mit ihr und spielt auf seiner Mundharmonika (seine Bewältigungsstrategie). Die ersten Trauergäste verlassen die Kapelle wieder – sie halten das nicht aus – dann ist die Kapelle leer. Er spielt unbeirrt weiter, die Welt um sich vergessend.
Die Zeit der Trauerfeier ist gekommen – die Kapelle füllt sich wieder, der Pastor betritt die Kapelle und beginnt mit der Trauerfeier. Herr Schmitz singt und spielt seine Weisen unbeirrt weiter. Die ersten Blicke von Angehörigen und Trauergästen habe ich noch ignoriert; bald werden sie deutlicher und ein Angehöriger spricht mich an: „ Das geht doch nicht – so bringen sie doch endlich den Mann auf seinen Platz!“ Ich überlege: Wo ist sein Platz? Von dem Üblichen mal abgesehen – wo ist sein Platz? Was ist wichtiger? Der trauernde Ehemann? Die versammelte Trauergemeinde? Der Pastor, der in seinem Ablauf schon erheblich eingeschränkt schien?
Und dann habe ich das Bild von Frau Schmitz im Krankenhaus vor mir: „Gitta – bring mir den Papi ein Stück näher, ich will ihn berühren!“ So kann ich mit trauriger Gelassenheit und dem sicheren Gefühl – auch wenn es die versammelte Gemeinde nicht versteht – zusehen und zulassen, wie Herr Schmitz sich auf seine Art von seiner Frau verabschiedet. Er greift nach dem Sarg (greifen, um das für ihn Unfassbare zu begreifen) und hält sich an den Griffen fest (der Sarg bewegt sich; ich denke: es sind genug Menschen da, um ihn wieder zu richten). Der Pastor versucht mühsam, wie üblich die Messe zu gestalten und nicht „aus dem Text“ zu kommen, denn Herr Schmitz spielt Mundharmonika, singt seine Abschiedslieder, die Menschen um sich vergessen. Und – ich halte gut die fordernden Blicke der Trauergemeinde aus.
Die Messe ist zu Ende. Meine Kollegin schiebt einen nahen Verwandten und ich Herrn Schmitz zum offenen Grab. Der Pastor beginnt und Herr Schmitz schreit laut: „Nein, noch nicht – ich bin noch nicht so weit“. Wann – und gibt es den richtigen Zeitpunkt?
Beim Kondolieren fragt Herr Schmitz einige Trauergäste: „Wo wart Ihr? Warum habt ihr uns nicht besucht?“
Vier Personen stehen am offenen Grab. Meine Kollegin mit einem nahen Verwandten von Herrn Schmitz und ich, hinter den Rollstühlen. Die Trauergäste sind längst am Parkplatz. Herr Schmitz und sein Verwandter möchten noch nicht gehen – und so bleiben wir. Herr Schmitz bittet mich, die Rosenblätter, die im bereitgestellten Körbchen liegen, auf den Sarg zu streuen; „Ich kann es doch nicht“! So nehme ich eine Handvoll Rosenblätter und lasse sie auf den Sarg rieseln. In diesem Moment setzt ein sanfter Wind ein und die Rosenblätter scheinen zu tanzen.
Wenn in dieser Szene ein Hauch Leichtigkeit möglich ist, dann ist es jetzt.
Meine Kollegin greift nun auch ins „Rosenblätterkörchen“ und die offene Grabstelle ist über und über von tanzenden Rosenblättern bedeckt, die vom Wind gehalten werden. Eine ganz unglaubliche Stimmung lag in der Luft. Meiner Resonanz folgend frage ich Herrn Schmitz, ob es ihm passend erscheint, seiner Frau zum Abschied „Für mich soll`s rote Rosen regnen … dir sollten sämtliche Wunder begegnen“ zu singen, ein Lied, das Frau Schmitz so gerne gesungen hat. Er stimmt sofort an. Wir singen – unabgesprochen den leicht veränderten Text: „Für Dich soll`s rote Rosen regnen“.
Vier (fünf?) Menschen – in dem Moment innig verbunden, trotz aller Schwere und Trauer auch ein Gefühl von Leichtigkeit.