Folgen traumatischer Erfahrungen können im Alter nachwirken- Auf der Flucht 1- Unruhe

Unruhe

Herr M. kommt in eine Beratungsstelle. „Ich bin in der letzten Zeit immer so unruhig und weiß gar nicht, wovon das kommt.“ Der Berater fragt, wann dies begonnen habe. Herr M. antwortet: „Kann ich nicht genau sagen. Das ist eigentlich immer schon so gewesen, dass ich solche Phasen hatte. Aber in der letzten Zeit ist das richtig stark geworden, seit einigen Monaten vielleicht und ganz besonders in den letzten Wochen.“

Der Berater fragt: „In welchen Situationen oder nach welchen Situationen ist das besonders stark? Vielleicht nachdem Sie einen bestimmten Film geschaut haben, nachdem Sie mit jemandem geredet haben, tagsüber oder nachts? Was wissen Sie, was ist Ihnen aufgefallen?“

Herr M. überlegt eine Weile und antwortet dann: „Auch das kann ich nicht genau beantworten. Fernsehen schaue ich zwar relativ viel, aber keine Sachen, die mich aufregen, wie zum Beispiel Tatort oder Filme, in denen Tote vorkommen, aber … genauer kann ich es nicht sagen.“

Der Berater fragt Herrn M., wann er geboren sei.

„1935.“

Der Berater gibt Herrn M. ein Päckchen mit 20 Postkarten unterschiedlicher Motive: Tiere, Kinder, Natur und andere: „Bitte schauen Sie diese Postkarten durch. Sie können sie durchblättern oder sie vor sich auf dem Tisch ausbreiten. Gibt es eine Karte oder mehrere, die Sie besonders interessieren oder die Sie vielleicht aufregen?“

Herr M. schaut sich die Postkarten nach und nach an. Bei einer Postkarte hält er inne, sie zeigt einen kleinen Fluss, der sich durch eine Landschaft schlängelt.

„Da merke ich, dass ich mich aufrege, wenigstens etwas. Ich glaube, dieses Bild habe ich schon einmal gesehen oder ein Bild, das so ähnlich aussah. Oder es ist in meinem Kopf entstanden, als meine Eltern mir erzählt haben, wie es früher in meiner Kindheit in Pommern war. Ich bin da ja als Kind weg und ich habe gar keine Erinnerungen.“

„Wie alt waren Sie, als Sie dort weggingen?“

Herr M. überlegt: „Da muss ich acht gewesen sein. Ich weiß nur von meiner Mutter, dass wir nach Berlin gingen, weil sie da arbeiten musste, und dann sind wir gerade noch rausgekommen.“

Herr M. schweigt, er verstummt. Dann gibt er sich einen Ruck und blättert weiter die Postkarten durch, schließlich sieht er eine Postkarte, auf der Kinder in Ruinen spielen. „Das könnte ich sein!“

Herr M. hat den Hintergrund seiner Unruhe gefunden, zumindest einen wichtigen Hintergrund. Vielleicht gibt es noch andere, aktuellere. Oft zeigen sich kriegstraumatische Erfahrungen wie bei Herrn M. in Unruhe, oft nachts, manchmal auch tagsüber. Die Betroffenen haben für diese Unruhe meist keine Erklärung. Manchmal vermuten sie die Ursache in körperlichen Störungen wie zum Beispiel Bluthochdruck, unter dem viele ältere Menschen leiden.

Häufig ist dieses eher unklare Empfinden und diese unbestimmte Unruhe verbunden mit Gedächtnislücken, die mit dem Fachbegriff Amnesie bezeichnet werden. Aus der Kindheit fehlen manchmal ganze Jahre, an die sich die Menschen nicht mehr erinnern können, doch der Leib erinnert sich. Die Gedächtnislücken entstehen zumeist dann, wenn Menschen etwas erlebt haben, das für sie schwer aushaltbar war. Daran sich nicht mehr zu erinnern, ist ein Selbstschutzprogramm des menschlichen Organismus. Doch der Körper, das Erleben eines Menschen erinnert sich doch. So wie es heißt: „Das Herz wird nicht dement“, ließe sich sagen: „Das Herz vergisst nicht.“

Diese Menschen haben im Krieg und in der Nachkriegszeit als Erwachsene oder als Kinder viel erlebt, das sie extrem beunruhigt hat. Die Unruhe tritt weiter auf, auch wenn das Gedächtnis über diese Situationen den Schleier des Vergessens gelegt hat.

Manchmal gibt es Auslöser für die Unruhe wie zum Beispiel bestimmte Fernsehfilme. Oft vermeiden die Betroffenen aber solche Filme bewusst oder unbewusst, so dass keine konkreten Auslöser zu identifizieren sind und der Hintergrund der Unruhe nebulös bleibt. Also gilt es, nach Spuren zu suchen, um solche Hintergründe zu identifizieren.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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