Spürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 5: Das Drücken

Die vierte Primäre Leibbewegung ist das Drücken. Drücken beinhaltet wie jede Leibbewegung eine motorische Ebene und eine Ebene des Erlebens. Motorisch kann man etwas mit unterschiedlicher Intensität drücken, zart, weich, wie eine sanfte Berührung, aber auch fest und kraftvoll. Die Richtung des Drückens kann nach innen gegen sich selbst, gegen den eigenen Körper, gehen oder nach außen. Man kann etwas an sich heran ziehen oder etwas wegdrücken. Das Gegenteil des Wegdrückens ist das Ziehen, das schnelle Wegdrücken kann zum Stoßen werden.

Wie bedeutend als grundlegende Bewegung des Erlebens das Drücken ist, hören wir oft. Wenn wir fragen: „Wie geht es Ihnen?“, antworten manche Menschen, dass sie sich unter Druck fühlen oder dass sie darunter leiden, dass andere Menschen Druck auf sie ausüben. Manche Menschen haben Angst, Forderungen an andere zu stellen, weil sie „keinen Druck ausüben wollen“. Wieder andere stehen ständig unter „Hochdruck“, ohne dass dieser Druck nach außen sichtbar wird oder gegen andere gerichtet werden kann. Drücken wird von vielen auch als Wegdrücken oder Weggedrückt-Werden erlebt. Andere erzählen, dass sie von anderen an die Seite gedrückt oder weggedrückt wurden und sich verstoßen fühlen. Wieder andere klagen, dass Menschen an ihnen „herumzerren“ oder „herumziehen“, Druck wird manchmal sogar mit Gewalt gleichgesetzt. Deswegen haben viele alte Menschen mit dem Drücken und Gedrückt-Werden schlechte Erfahrungen gemacht. Sie brauchen neue – positive – Erfahrungen, denn die Sehnsucht ist bei den meisten vorhanden.

Wenn ein Säugling gehalten wird, drückt die Mutter oder eine andere Bezugsperson den Säugling an sich und hält ihn. Drücken und Gehaltenwerden gehören häufig zusammen. Viele Menschen erleben Halt und Gehaltenwerden im Sinne von Geborgenheit und Sicherheit, andere haben in ihrer Biografie Gehaltenwerden als Beengung und Gewalt erfahren. Wie bei allen Leibbewegungen ist das Erleben auch des Drückens individuell und unterliegt unterschiedlichen Wahrnehmungen, Erlebnisweisen und Bewegungen.

Alte Menschen, vor allem solche, die an Alzheimerdemenz oder anderen Formen der Demenz erkrankt sind, stehen unter Druck. Ihnen schwindet ihre Orientierung, sie fühlen sich falsch, werden hilflos. Dies entlädt sich oft in Aggression, die manchmal ungerichtet ist und jeden, der vorbeikommt, treffen kann. Unsere Erfahrung ist: Gegen Druck hilft drücken. Manchmal gelingt es sogar in aggressiven Schüben, auf einen alten Menschen zuzugehen und zu sagen: „Darf ich Sie mal einfach in den Arm nehmen?“ – und das hilft. Oft ist in der Aggression die Aufregung zu groß, als dass die aggressiven alten Menschen jemanden an sich heran lassen. Dann mag dies Angebot, jemanden zu drücken und in den Arm zu nehmen, eine gute Vorbeugung in den Phasen zwischen aggressiven Schüben sein. Dadurch, dass ein Mensch in den Arm genommen wird, kann sich der innere Druck sanft entladen, findet der Betreffende ein Gegenüber, das Halt gibt und damit Sicherheit.

Manchmal begegnen uns auch alte Menschen, die ihr ganzes Leben lang unter Druck standen und „die Zähne zusammengebissen haben“. Dies kann buchstäblich zur Zerstörung von Zahnprothesen und nächtlichem „Knirschen“ führen, aber auch im übertragenen Sinn prägt dies manchmal die Haltung alter Menschen. Auch gegen dieses „Zähne-Zusammenbeißen“ hilft die spürende Begegnung. Am leichtesten und häufigsten gelingt dies über drückende Berührungen der Hände. Wenn Sie einmal darauf achten, mit welch unterschiedlichem Erleben Sie anderen Menschen die Hand reichen bzw. von Ihnen die Hand gereicht bekommen, dann wird Ihnen die Vielfalt der spürenden Begegnungen über den Handdruck deutlich werden. Wenn Sie solche Erfahrungen nun gezielt einsetzen, indem Sie anderen Menschen, gerade solchen, die „unter Druck stehen“, ihren Handdruck anbieten, so wie Sie ihn gerade als angemessen spüren und anbieten können und wollen, dann werden Sie wichtige Veränderungen beobachten können.

Helfende Anregungen, um Menschen überhaupt an die Erlebensqualität Drücken heranzuführen, kann darin bestehen, ihnen etwas „in die Hand“ zu geben. Dies kann ein Stück Ton sein oder ein Stück Holz, an dem sie sich „festhalten“ können. Oft werden weichere Materialien wie Stoffe sehr gern angenommen. Auch hier geht es nicht darum, etwas Bestimmtes zu gestalten oder technische Fertigkeiten zu erwerben, sondern die Menschen zu ermutigen, unterschiedliche Erfahrungen spürenden Drückens zu machen.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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