Spürende Begegnungen in der Altenhilfe Teil 1: Was sind Primäre Leibbewegungen?

„Was hat die Frau Meierle heute nur?“, dachte Elisabeth L., Altenpflegerin, „Sie starrt mich heute so seltsam an.“ Der Blick von Frau Meierle war ihr unbehaglich und machte ihr Angst, obwohl sie die 84-jährige Dame eigentlich gut leiden konnte. Aber heute war in diesem Blick etwas Besonderes, das sie dazu brachte, dem Blick auszuweichen und den Kontakt zu meiden.

Doch Frau Meierle ließ nicht nach. Als Elisabeth L. sie beim Mittagstisch wieder traf, hörte Frau Meierle, als sie Elisabeth L. sah, sofort auf zu essen und begann, sie anzustarren. In dem Blick war vieles enthalten, wie Elisabeth L. bemerkte, als sie einige Sekunden lang genauer hinschaute. Da waren Groll und Forderung, aber auch Sehnsucht und viele Fragezeichen. Der Groll und die Forderung hatten Elisabeth L. veranlasst, wegzuschauen und dem Blick auszuweichen. Als sie nun noch die Sehnsucht und die Fragezeichen bemerkte, gab sie sich einen inneren Ruck und setzte sich Frau Meierle gegenüber an den Tisch. Sie schaute sie an, berührte ihre Hände und sagte: „Hallo, Frau Meierle. Ich bin da. Wie geht es Ihnen?“ Sofort löste sich die Starrheit des Blicks von Frau Meierle, ihre Augen wurden feucht und weich und sie lächelte …

Solche und ähnliche Geschichten ereignen sich fortwährend, wenn sich Pflegende und alte Menschen begegnen. Die Besonderheit dieser Begegnung besteht darin, dass zwar Worte auch wichtig sind, wie die Ansprache von Elisabeth L. an Frau Meierle. Entscheidend aber sind die sinnlichen Begegnungen ohne Worte, hier über das Schauen und schließlich über das Greifen der Hand. Hier geht es weniger um verbale Begegnungen, sondern Begegnungen, die sinnlich spürbar sind. Deswegen nennen wir sie spürende Begegnungen. Was die wesentlichen Momente dieser spürenden Begegnungen sind, soll in diesem Beitrag beleuchtet werden. Ich möchte vorstellen, wie solche spürenden Begegnungen im Alltag der Altenhilfe genutzt werden können.

Für die spürenden Begegnungen gibt es in der Leibtherapie die Bezeichnung Primäre Leibbewegungen. Diese Bezeichnung ist erklärungsbedürftig. Mit „Leib“ wird der sich und seine Welt spürende und erlebende Mensch bezeichnet. Auch die Begegnung der Blicke zwischen Elisabeth L. und Frau Meierle entstand nicht als bewusster Akt, als reflektierender Prozess des Denkens, sondern als unbewusste Wechselwirkung. Das Erleben von Frau Meierle, das sich in dem starren Blick ausdrückte, berührte Elisabeth L., „machte etwas mit ihr“, rief Resonanzen hervor, beeinflusste auch ihr Erleben (sie fühlte sich unbehaglich) und Verhalten (sie schaute weg). Solche Prozesse werden in der Phänomenologischen Philosophie und der Leibtherapie als leibliche Bewegungen bezeichnet. Leibbewegungen sind alle Äußerungen des Erlebens wie hier die Begegnung der Augen zwischen Frau Meierle und Elisabeth L.

Solche Leibbewegungen bedürfen nicht des Denkens, schließen es aber nicht aus. Am Anfang vollzog sich der Kontakt zwischen Frau Meierle und Elisabeth L., ohne dass beide darüber nachdachten. Sie begegneten sich in der Leibbewegung des Schauens und dies rief Gefühle wie Angst hervor und Befinden wie Unbehaglichkeit. Später dann dachte Elisabeth L. darüber nach und aus diesem Nachdenken entstand der Impuls genauer hinzuschauen und aus dem Spüren, das sich in diesem Hinschauen entwickelte, fasste sie den Entschluss, den Blick von Frau Meierle zu erwidern und ging infolgedessen zu ihrem Tisch. Hier sind bewusste Akte des Wahrnehmens und Denken eingebettet in das Erleben. Das Erleben ist immer vorhanden und bedarf der denkenden Reflektion nicht. Doch wenn das Denken die spürenden Begegnungen achtet und ernst nimmt, dann können daraus neue Impulse der Begegnung entstehen, wie die zwischen Frau Elisabeth L. und Frau Meierle. Es lohnt sich also, sich mit den Leibbewegungen, den spürenden Begegnungen zu beschäftigen und darüber nachzudenken, um genau solche Erfahrungen in der Begleitung alter Menschen zu nutzen.

Insbesondere alte Menschen, die depressiv oder dement sind oder unter den Folgen von Kriegstraumata leiden, sind oft nicht über Worte allein zu erreichen, so dass spürende Begegnungen der Schlüssel zur Kontaktaufnahme und der einzige Weg für eine begleitende Begegnung sein können.

Warum nun Primäre Leibbewegungen? Mit Primären Leibbewegungen werden grundlegende Bewegungen des Erlebens bezeichnet (Baer, Frick-Baer 2001/2008). Meine Frau und ich haben sie so genannt, als wir der Frage nachgegingen, welche zwischenleiblichen Beziehungen den „Tanz“ zwischen Mutter und Säugling ausmachen, den die Säuglingsforscher beschreiben.

Die Primären Leibbewegungen sind die ersten Lebens- und Erlebensäußerungen von Säuglingen. Säuglinge lehnen sich an den Arm der Mutter oder anderer Betreuungspersonen. Sie schauen und beginnen über die Augen den Tanz mit den Eltern. Sie drücken die Milchflasche an sich oder von sich weg, sie drücken ihr Köpfchen an die Brust, z. B. beim Stillen, oder drücken sich mit dem ganzen Körper weg, wenn sie etwa die Arme der Erwachsenen als einengend erleben. Über die Kraft und Ausdrucksstärke ihrer Töne können Eltern so manches Lied singen. Säuglinge greifen schon in den ersten Tagen reflexartig nach einem hingestreckten Finger und nutzen später das Greifen, um sich in die Welt hinauszubewegen.

Diese Leibbewegungen werden auch deshalb „primär“ bezeichnet, weil in ihnen grundlegende leibliche Bewegungen zum Ausdruck kommen. Fast immer, wenn wir wesentliche Begegnungen zwischen Menschen analysieren, ob in der Pflege oder Therapie, in der Pädagogik oder in der Familie, werden wir bei diesen Primären Leibbewegungen landen. Sie haben offenbar eine grundlegende Bedeutung für die spürenden Begegnungen zwischen Menschen aller Altersstufen.

Die Primären Leibbewegungen sind:

Schauen

Tönen

Greifen

Drücken

Lehnen

Ich widme den einzelnen Primären Leibbewegungen in den kommenden Wochen jeweils einen eigenen Artikel.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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