Die übersehene Gewalt in den Familien Teil 3: Ungleichbehandlung: „Ich war immer schon das Aschenputtel …“

„…Eine andere Tochter berichtet, dass sie auf ihre Berufstätigkeit verzichtet habe, um ihre Mutter liebevoll pflegen zu können. Ihre Familie sei zusammengerückt, um Platz für die Mutter und Großmutter zu haben. „Das haben wir gerne getan. Das war irgendwie selbstverständlich für uns. Aber nun … Meine Mutter nimmt alles so selbstverständlich, niemals ein Dank, selten ein Lächeln. Aber wehe, wenn meine Schwester kommt, einmal jährlich. Dann ist große Aufregung. Dann muss ich alles vorbereiten, einkaufen, kochen, damit es meiner Schwester gut hat. Das verlangt meine Mutter mit unglaublicher Härte von mir. Sie dankt meiner Schwester überschwänglich für jede Kleinigkeit: dass sie den Tisch abräumt, überhaupt, dass sie den weiten Weg kommt usw. usw. Ich bin dann noch mehr Dienstmädchen als sonst. Meine Familie ist dann richtig sauer mit mir, dass ich das mit mir machen lasse. – Ich habe mir jetzt mal vorgenommen, meiner Schwester wenigstens zu sagen, wie es ist. Vielleicht bekomme ich wenigstens von ihr dann nicht mehr nur weiter gute Ratschläge aus der Entfernung, sondern mal ein bisschen Anerkennung für meine Leistung. Ich brauche das, sonst komme ich bald um vor Neid und Missgunst – die ich doch gar nicht haben will.“

 Dass pflegende Kinder, die konkret die Hauptlast des Pflegealltags tragen, miterleben müssen, dass die Geschwister, die sich eher rar machen (müssen), von den pflegebedürftigen Eltern mit spürbarer Freude und Dankbarkeit empfangen werden, geschieht unserer Erfahrung nach häufig. Oft scheint das auf den Boden früherer Erfahrungen zu fallen. Die eben erwähnte Frau meinte: „Meine Schwester war schon immer das Lieblingskind. Ich war schon immer das Aschenputtel in unserer Familie.“ In anderen Familien heißt es: „Klar, wenn mein Bruder kommt, stehen meine alten Eltern kopf. Ihr Prinz, ihr Ein-und-Alles …“

Die pflegebedürftigen Eltern ändern zu wollen, ist erfahrungsgemäß meistens verlorene Liebesmüh. Denn welches alte Elternpaar mag sich noch auf diese „Ungerechtigkeit“ und „Ungleichbehandlung“ ansprechen lassen! Was helfen kann, ist, dass die Geschwister die Spaltung, besonders, wenn sie aus der Vergangenheit resultiert, nicht mehr hinnehmen. Wenn sie statt dessen und aktuell untereinander Beziehungsbrücken bauen, indem sie die Verantwortung aufteilen und die oder den konkret Pflegenden so gut es geht unterstützen, in Rat und Tat und vor allem in Dankbarkeit, Achtung und Anerkennung.

Udo Baer, Gabriele Frick-Baer, Gitta Alandt: Wenn alte Menschen aggressiv werden Rat für Pflegende und Angehörige,                                                                                                           BELTZ Verlag, ISBN: 978-3-407-85986-0

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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