Agitiertheit, Teil 4: Agitiertheit bei Kriegstraumata

 

 

 

Zwei Drittel der Menschen, die heute (2019) älter als 72 Jahre sind, haben in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit traumatische Erfahrungen erleiden müssen. Die Hälfte von ihnen mehrmals. Lange Zeit über viele Jahrzehnte wurden die Folgen solcher traumatischen Erfahrungen versteckt oder ins Unbewusste „weggedrückt“. Doch mit zunehmendem Alter, mit zunehmender Schwäche und Gebrechlichkeit, können solche Trauma-Folgen wieder lebendig werden. Sie zeigen sich häufig in Unruhe und Agitiertheit.

Frau Nissen kann kaum noch laufen, doch sie bewegt sich immer auf und ab. Sie läuft hier- und dorthin mit angestrengter Miene und konzentrierter Starre im Blick. Eine Mitarbeiterin fragt sie: „Wo wollen Sie denn hin?“ Sie schaut auf, hält kurz inne und geht dann weiter. Keine Antwort.

 

Frau Nissen ist auf der Flucht. Sie weiß nicht, wo sie hinwill. Sie weiß, dass sie weg muss vor der russischen Armee, vor den Kriegshandlungen, vor den Schüssen, vor den Bomben. Wenn die Frage: Wo wollen Sie hin? nicht beantwortet werden kann, dann ist es sinnvoll, die Frage umzuformulieren: Wovor laufen Sie weg?

Alleine aus den damaligen deutschen Ostgebieten sind vierzehn Millionen Menschen, alte Männer, Frauen und Kinder, geflohen oder vertrieben worden. Zwölf Millionen Menschen haben diese Flucht überlebt, das heißt über zwei Millionen Menschen sind dabei gestorben. Auf diesen Fluchtbewegungen ging es um die Existenz, um das nackte Überleben. Wenn die Erinnerungen an diese Zeiten wieder lebendig werden, dann ist es nicht so, dass die betroffenen Menschen sich an das, was war, erinnern, so wie andere Menschen sich an einen Urlaub oder an eine Weihnachtsfeier erinnern. Nein, sie befinden sich j e t z t auf der Flucht. Das Gedächtnis des Traumas wirkt so, als wäre das schlimme und grauenhafte Geschehen hier und jetzt lebendig. Das hat zur Folge, dass die Menschen unruhig werden, dass sie ängstlich werden, dass der Schrecken und das Grauen sie ergreift, und dass sie loslaufen. Oft haben sie keine Worte für das, was sie erleben, aber sie zeigen es in ihrem Verhalten.

Solches Verhalten zu kennen und auch das Verständnis dafür zu haben, dass es eine mögliche Quelle von agitierter Unruhe sein kann, ist notwendig und wichtig. Oft werden die Folgen von kriegstraumatischen Erfahrungen mit Symptomen der Demenz verwechselt.

Auch Geräusche wie das Donnergrollen bei Gewitter können sich für die betroffenen Menschen anhören wie Artilleriebeschuss oder Bombenabwürfe. Dunkelheit oder geschlossene Türen können das Eingesperrt sein im Bunker oder das Verschüttet sein antriggern, also die Erinnerung hervorrufen. Auch das Knallen von Türen oder andere laute Geräusche können dem Geräusch von Gewehrschüssen ähneln und dergleichen mehr. Es ist wichtig, dass nicht jede Unruhe und jedes Agitiert sein nur auf demenzielle Erkrankungen zurückgeführt werden, sondern auch darauf, dass diese kriegstraumatischen Erfahrungen wieder lebendig sein können und als Quelle dafür wirken.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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