„Ich habe meine Mutter verraten“

 

 

 

In einem Beratungsgespräch beginnt eine Frau bitterlich zu weinen. Sie sagt: „Meine Mutter ist dement und ich habe ihr versprochen, dass sie immer bei mir bleiben kann. Ich habe sie jetzt acht Jahre gepflegt, aber irgendwie geht es jetzt nicht mehr. Sie musste ins Heim. Ich habe mein Versprechen gebrochen. Jetzt schaut sie mich immer, wenn ich sie besuche, sehr vorwurfsvoll an. Sie spricht kaum noch mit mir …“

Niemand verstößt gerne gegen ein Versprechen, das er oder sie gegeben hat. Doch manchmal ist es notwendig, ein Versprechen nicht zu halten. Die Tochter hat jahrelang alles gegeben, um ihr Versprechen zu erfüllen. Dann war eine Grenze erreicht und die gibt es oft. Für die meisten Menschen besteht diese Grenze darin, dass sie selber zusammenbrechen, dass sie die Belastungen und Überlastungen der häuslichen Pflege nicht mehr aushalten und selber krank werden, körperlich oder psychisch. Dann kann auch die Betreuung, Begleitung und Pflege der Mutter, wie in diesem Fall, nicht mehr gelingen. Der andere Faktor, der das Halten eines Versprechens behindert, ist, wenn sich Menschen, die demenziell erkrankt sind, selbst gefährden. Wer wegläuft, wer den Gasherd oder die Herdplatte anlässt, gefährdet nicht nur sich, sondern auch die gesamte Umgebung der Wohnung oder des Hauses. Hier ist eine häusliche Pflege nicht mehr möglich.

Manchmal müssen Versprechen gebrochen werden, um sich nicht selbst und auch die Person, um die man sich kümmert, zu verraten. Wenn wir einem anderen Menschen ein Versprechen geben, sollten wir eine Einschränkung machen: „Ich werde mich darum bemühen, dass ich dich, solange es geht, pflegen kann.“ Worte und Versprechen, die auf „nie“ und „immer“ abzielen, sind gefährlich, denn man kann die Zukunft nicht vorhersehen. Wenn eine Person, wie hier die Mutter, sich selbst gefährdet oder wenn eine Pflegeperson zusammenbricht, dann muss das Versprechen gebrochen werden. Das zu wissen, kann helfen. Schwer bleibt es trotzdem, weil die demenziell erkrankten Menschen dies zumeist nicht verstehen können. Was bleibt, ist zu trauern und sich selbst Trost zu holen als Tochter, als Sohn, als Partner, als Pflegeperson und dann, so gut es geht, Nähe, die möglich ist, mit der demenziell erkrankten Person zu leben.

 

 

 

Series Navigation<< Angehörigenarbeit Teil 6: Grenzen setzen gegen Entwürdigung„Dürfen“ Angehörige wütend sein? >>

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.