„Dürfen“ Angehörige wütend sein?

 

 

Frau M. hat die Küche geputzt. Sie lässt ihren demenzkranken Mann einen Moment allein, weil sie Kartoffeln aus dem Keller holt. Bei ihrer Rückkehr stellt sie fest, dass dieser in die Küche uriniert hat. Er hat wieder einmal das Badezimmer nicht gefunden. Frau M. ist sauer und schimpft vor sich hin: „Muss das denn sein?!“ Einen Moment überlegt sie, ob ihr Mann das extra gemacht hat, um sie zu ärgern. Doch dann denkt sie, dass es Ausdruck seiner Erkrankung ist. Sie nimmt sich zurück, um nicht mit ihm zu schimpfen, aber trotzdem bleibt etwas von der Wut und dem Ärger. Sie denkt: Er ist doch krank, da darf ich doch nicht wütend sein.

Solche und ähnliche Situationen in der Begleitung demenziell erkrankter Menschen geschehen täglich. Viele Angehörige unterdrücken ihren Ärger. Andere lassen ihn an den demenziell erkrankten Menschen aus. Beides ist nicht richtig. Wer demenziell erkrankte Menschen beschimpft, tut ihnen unrecht, weil ihr Verhalten Ausdruck ihrer Erkrankung ist.

Gleichzeitig ist es ungesund, den eigenen Ärger zu unterdrücken. Ärgerliche Gefühle haben wie alle Gefühle einen Sinn. Der Sinn besteht darin, dass wir Menschen etwas verändern wollen und der Ärger uns den Impuls und Antrieb dazu spüren lässt. Wenn ich meinen Autoschlüssel nicht finde, ärgere ich mich über mich selbst und will das ändern. Wenn ein Nachbar am Sonntagmittag um 14.00 Uhr die Bohrmaschine benutzt, ärgere ich mich und will das ändern … Ärger ist insofern gesund und ein nützlicher Impuls. Wenn er stärker wird, kann man ihn Wut oder Zorn nennen. Die Bezeichnung ist zweitrangig. Aggressive Gefühle zielen zunächst einmal auf Veränderung ab.

Doch oft können wir unseren Ärger nicht ausleben oder sollten dies nicht tun, zum Beispiel gegenüber demenziell erkrankten Angehörigen. Dann hilft das große UND: Ich ärgere mich UND ich werde den Ärger nicht an meinem kranken Mann auslassen. Mit dem großen UND können wir unsere Gefühle respektieren und gleichzeitig die Fürsorge und das Verständnis für die erkrankten Menschen, deren Handeln Anlass für den Ärger ist, aufbringen.

Auch hier zielt der Ärger auf Veränderung. Doch der Impuls der Veränderung geht ins Leere, die Änderungsmöglichkeiten sind beschränkt. Vielleicht kann Frau M. sich beraten lassen, wie sie ihre Wohnung so umgestaltet, dass ihr Mann die Toilette finden kann. Vielleicht muss ihr Mann Windeln tragen. Vielleicht kann sie ihn irgendwann nicht mehr zu Hause pflegen …

Und auf der anderen Seite ist es gut, wenn Frau M. auch ihren Ärger an anderer Stelle „los wird“ oder zumindest äußern kann. Vielleicht kann sie eine Freundin oder ihre Tochter anrufen, um sich ein wenig Entlastung zu verschaffen und zu schimpfen und zu stöhnen. Wenn Ärger nicht gezeigt werden darf, dann neigt er dazu, immer stärker zu werden und irgendwann nach innen oder außen aggressiv zu explodieren. Dem gilt es vorzubeugen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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