Sexualität in der Altenhilfe, Teil1: Sexuelle Bedürfnisse dürfen in der Altenhilfe nicht tabuisiert werden

 

 

Es ist richtig und wertvoll, dass über sexuelle Bedürfnisse gesprochen wird, dass sie nicht tabuisiert werden. Denn auch alte Menschen sind sexuelle Wesen.

Einige Befragungsergebnisse zeigen das:

– Von den Menschen, die über 80 Jahre alt sind, sind „sexuell aktiv“, wenn sie in einer Partnerschaft leben:
Männer          30%
Frauen          25%

Wenn sie nicht in einer Partnerschaft leben:
Männer         7%
Frauen          0% (zumindest statistisch nicht feststellbar)

– Die Befragungen und Untersuchungen zeigen, dass mit zunehmendem Alter Zärtlichkeit und Nähe zunehmende Bedeutung im Vergleich zu Geschlechtsverkehr und unmittelbar sexuellen Handlungen erhalten.

– Bei den sexuellen Aktivitäten nimmt die Bedeutung der Masturbation zu.

– Ab dem Alter von 60 Jahren nehmen Behinderungen des Erlebens und des Auslebens von Sexualität zu. Die wichtigsten sind:

Erektionsstörungen (auch durch: Diabetes)

Nachlassendes sexuelles Verlangen, trockene Scheide usw., v.a. bei Frauen

Schmerzen, v.a. chronische Schmerzen

Inkontinenz

Nebenwirkungen von Medikamenten

– Auffällig ist die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Geschlechtsverkehr und dem tatsächlich praktizierten Geschlechtsverkehr Älterer. In der deutschsprachigen Schweiz wurden über 75-Jährige befragt.

Wunsch nach GV              Männer         60%             Frauen          30%

Tatsächlicher GV              Männer         30%             Frauen            7%

Die Enttabuisierung von Sexualität ist gut für die alten Menschen, die dadurch ernst genommen werden, und das ist gut für die Pflegenden, die die damit nicht mehr nur auf sich allein gestellt sind, wie sie damit umgehen sollen, wenn sie sexuellen Wünschen und Aktivitäten alter Menschen begegnen. Wenn anerkannt wird, dass es sexuelle Bedürfnisse der Bewohner/innen und Bewohner in Einrichtungen der Altenhilfe gibt, dann können und müssen in Teambesprechungen Erfahrungen der Pflegenden ausgetauscht und individuelle Wege des Umgangs gesucht werden.

Für die alten Menschen bedeutet das, dass sie wegen ihrer Bedürfnisse nicht beschämt werden dürfen. Erotik und Zärtlichkeiten der Bewohner und Bewohnerinnen untereinander müssen erlaubt sein.

Es braucht besonders den Schutz der Intimität, um Sexualität wie auch immer ausleben zu können. Jeder Mensch hat das Recht auf den Schutz seines Intimen Raums. Wird der persönliche Raum als Nahraum um eine Person erlebt, wird von den meisten Menschen der Intime Raum ungefähr mit den erlebten Körpergrenzen gleichgesetzt. Dieser Raum steht in keinem Anatomiebuch, er ist ein Raum des Erlebens. Wir Menschen wollen entscheiden, wen wir diesen Raum berühren lassen, wem wir ihn zeigen, wen wir in diesen Raum einladen – und wen nicht. Wir brauchen die Wahlmöglichkeit, JA zu sagen und NEIN zu sagen.

Wir müssen das Recht auf den Schutz des Intimen Raums zu unterstützen. Denn Verletzungen des Intimen Raums tun weh, körperlich und seelisch, und können nachhaltige Wirkungen haben.

Das heißt für die Altenhilfe: Wenn zwei Menschen sich nahe kommen wollen, brauchen Sie das Recht auf geschlossene Türen. Wenn alte Menschen masturbieren wollen, brauchen Sie Türschilder, die sagen: Stopp! Wenn wir anklopfen, sollten wir das nicht nur pro forma tun, sondern warten, bis jemand „Herein!“ ruft. Und wir sollten alles tun, um alte Menschen nicht zu beschämen.

In der Pflege müssen Grenzen der Intimen Räume überschritten und das muss oft z. B. in der Körperpflege so sein. Entscheidend ist, mit welcher Haltung dies geschieht.

 

Literatur

Baer, U.; Frick-Baer, G.; Alandt, G. (2014):
Wenn alte Menschen aggressiv werden: Demenz und Gewalt – Rat für Angehörige und Pflegende
Weinheim

Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (2006): Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz
in der stationären Altenhilfe. Witten

Glaus Hartmann, M. (2003): Aggressionsereignisse von PflegeheimbewohnerInnen. Master Thesis. Universität Maastricht, Fakultät Gesundheitswissenschaften. Aarau

Görgen, T.; Rabold, S.; Herbst, S. (2007): Ist die Hand, die pflegt, auch die Hand, die schlägt? Ergebnisse einer Befragung ambulanter Pflegekräfte zur Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen in der häuslich-professionellen Pflege. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e. V.

Kienzle, K.; Paul-Ettlinger, B. (2012): Aggression in der Pflege. Stuttgart

Nau, J. (2012a): Aggression in der ambulanten Pflege. In: Walter et al. 2012, S. 328-342

Nau, J. (2012b): Aggression gegen Auszubildende in Pflegeberufen. In: Walter et al. 2012, S. 400-412

Rapp, M. A., et al. (2008): Verhaltenssymptome bei Demenz in Pflegeeinrichtungen. Evaluation eines Tandemprojekts pflegerischer und ärztlicher Leitlinien. Zeitschrift Gerontopsychologie und Psychiatrie, 21/3, S. 205-214

 

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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