Demenz-Code Teil 2: Die zwei Zeiterleben

Wegen vieler Nachfragen veröffentlichen wir hier einzelne Elemente des „Demenz-Codes“ von Udo Baer, einem Schlüssel zum Verständnis von Menschen mit Demenz.

Es gibt die objektive Zeit, die in Sekunden, Minuten, Stunden usw. zu messen ist. Und es gibt das Zeiterleben, das subjektiv ist und je nach Individuum und Situation unterschiedlich erfahren wird. Ein Arbeitstag kann für den Einen „wie im Flug“ vergehen und für einen Anderen „quälend langsam“.

Das Zeiterleben der meisten Menschen mit Demenz ist bedeutend langsamer als das derjenigen, die sie begleiten.

Dies ist genereller Ausdruck der veränderten Orientierung in Zeit und Raum. Die Orientierungsschwäche zeigt sich räumlich. Es fällt auf und ist sichtbar, wenn Herr M. sein Zimmer nicht findet und im Altenheim umherirrt. Doch die Desorientierung betrifft auch das Zeitempfinden. Herr M. weiß oft nicht, ob es vormittags oder nachmittags ist. Vor allem aber vergeht für ihn die Zeit langsamer als für andere und er braucht für alle seine Impulse, Bewegungen und Entscheidungen deutlich länger als andere Menschen.

Ein Beispiel: Herr M. sitzt im Aufenthaltsraum. Eine Service-Mitarbeiterin bringt ihm Kaffee. Sie fragt: „Wollen Sie Milch in den Kaffee?“ Er schaut sie an und reagiert nicht. Sie nimmt das als „Nein“ und geht zum nächsten Tisch. Immerhin fragt sie und gibt ihm nicht  einfach einen Milchkaffee, wie das oft geschieht, „weil die meisten den Kaffee mit Milch wollen“. Doch sie kann mit seiner Art zu antworten nicht umgehen. Als sie sich abwendet, nickt er. Er wollte Milch, aber er brauchte schlicht mehr Zeit, als die Mitarbeiterin aufbringen konnte oder als sie für die Antwort erwartete.

Nichts zu antworten, bedeutet oft keine Verneinung, sondern ist einfach Ausdruck davon, dass die Menschen mit demenziellen Erkrankungen mehr Zeit als andere benötigen, um zu antworten.

Um den Demenz-Code zu verstehen, ist es notwendig zu wissen, dass die Uhr zwar in der gleichen Geschwindigkeit tickt, aber das Zeiterleben von Menschen mit Demenz in der Regel verlangsamt ist. In seinem Erleben hat Herr M. in „normaler“ Geschwindigkeit geantwortet. Im Zeiterleben der Mitarbeiterin war es mindestens Zeitlupe.

Auch Mitarbeiter/innen und Angehörige bringen sich um positive Erfahrungen, wenn sie zu schnell sind. So wird manchmal das „Danke“, das mit Verspätung kommt, nicht mehr gehört, weil die Person, der es gilt, schon aus dem Zimmer ist.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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