Demenz-Code Teil 6: Die neun Arten, Nein zu sagen

 

 

 

 

 

Wegen vieler Nachfragen veröffentlichen wir hier einzelne Elemente des „Demenz-Codes“ von Udo Baer, einem Schlüssel zum Verständnis von Menschen mit Demenz.

Viele Menschen, die an Demenz erkrankt sind, können sich nicht mehr differenziert äußern. Insbesondere das Nein-Sagen fällt ihnen schwer. Dies ist Ausdruck der demenziellen Desorientierungen und Kommunikations-Einschränkungen. Hinzu kommen vor allem bei zahlreichen alten Frauen die soziokulturellen Gewohnheiten. Wer in seinem Leben nie oder selten „Nein“ sagen durfte, wird dies nur schwerlich im hohen Alter bzw. in der Demenz lernen.

Ich werde Ihnen deshalb hier neun Arten, Nein zu sagen, vorstellen. Sie sind im Rahmen der Entschlüsselung des Demenz-Codes bedeutsam. Für die Wahrung der Würde an Demenz erkrankter Menschen brauchen sie das Recht, „Nein“ sagen zu dürfen und zu können. Dazu müssen sie verstanden werden.

  1. Das Wegschauen ist eine wenig verschlüsselte, meist gut erkennbare Verneinung. Herrn T. wird sein Mantel hingehalten. Er wird gefragt, ob er ihn für den Spaziergang anziehen möchte. Herr T. schaut weg. Oft wirkt dieses Wegschauen, das eine Verneinung ausdrückt, fast demonstrativ. Herr T. schaut nicht woanders hin, weil ihn anderes interessiert. Er schaut weg, eine Verneinung.
  2. Verengen der Pupillen. Manchmal – seltener – ereignet sich das Wegschauen nicht durch einen Richtungswechsel des Blickens z. B. von geradeaus nach rechts oder links, sondern dadurch, dass der Blick „nach innen“ geht. Scheinbar wird noch auf den Mantel geschaut, doch der Blick wirkt abwesend, wie nach innen gerichtet. Ein sichtbares Zeichen dafür ist die Verengung der Pupillen.
  3. Übertrieben „Ja“ Eine paradoxe Art der Verneinung besteht darin, übertrieben „Ja“ zu sagen. Eine alte Dame wird zum Beispiel gefragt, ob sie einen Kaffee möchte. Sie nickt und bedankt sich überschwänglich – und dann bleibt der Kaffee stehen und erkaltet. Das wird oft so interpretiert, dass die Frau den Kaffee vergessen hat. Doch hier war das überschwängliche „Ja“ ein verkapptes „Nein“. In ihrem ganzen Leben durfte die alte Dame nie „Nein“ sagen, und ein nettes Angebot ausschlagen, durfte sie schon gar nicht. Also gebot es die ihr eingehauste Rolle, das Angebot des Kaffees sehr freundlich anzunehmen. Das verkappte Nein wird bei Menschen mit Verhaltensweisen wie diesen vor allem daran sichtbar, dass das Ja oft theatralisch übertrieben wirkt und dass das Ja folgenlos bleibt, ihm kein Handeln folgt – wie hier: der Kaffee bleibt kalt.
  4. Oft erstarren Menschen mit demenziellen Erkrankungen, anstatt „Nein“ zu sagen. Die Gründe dafür sind sicherlich individuell unterschiedlich und durch biografische Erfahrungen und persönliche Besonderheiten geprägt. Zu beobachten ist oft, dass die Menschen dann wie gelähmt wirken oder wie vor Schreck erstarrt. Fast immer strahlen Sie eher Hilflosigkeit und Angst als eine Verneinung aus.
  5. Manche Menschen mit Demenz wirken trotzig. Vielleicht hat sie am Tag zuvor etwas geärgert und konnten dies nicht äußern. Der Ärger wirkt nach und wird zum Trotz. Oft wirkt der Trotz provokativ – doch fast immer ist er ein Ausdruck von Not. Es lohnt sich, der möglichen Not nachzugehen.
  6. Aggressivität. Aggressive Gefühle sind Verneinungen. Wenn sich ein Mensch über etwas ärgert, dann will er das, was er ärgerlich findet, nicht mehr haben. Wut will sogar zerstören, Hass vernichten. Allen aggressiven Gefühlsäußerungen wohnt ein Nein inne. Viele Menschen mit Demenz spüren, dass sie zu einem Vorschlag oder einem Verhalten „Nein“ sagen wollen, doch ihnen fehlt die Ausdrucksform und ihnen ist das Maß der Verneinung abhanden gekommen. Also wird ihre Verneinung maßlos und äußert sich in manchmal blinder Aggressivität. Diejenigen, die davon betroffen sind, reagieren auf die Aggressivität und übersehen dann zumeist den Kern des „Neins“, der in der aggressiven Flut enthalten ist. Es lohnt sich, nach diesem Kern zu schauen. Zumeist ist das in überflutender Aggressivität verborgene Nein eng gepaart mit Hilflosigkeit und Scham über die eigenen Unzulänglichkeiten.
  7. Es gibt Menschen, die sind verroht. Sie kennen kein oder kaum Mitgefühl für das Leiden anderer und wollen immer „oben“ sein und andere „unten“ haben. Wenn sie dement werden, bekommen Sie dadurch keinen besseren Charakter. Ein „fieser Möpp“ bleibt ein „fieser Möpp“. Ihr „Nein“ ist abwertend und entwürdigend.
  8. Wenn jemand „Nein“ sagen möchte, aber das Wort oder einen vergleichbaren Ausdruck nicht findet, drücken sich die Suche nach dem Wort und die Scham über die eigenen Mängel häufig in zunehmender Verwirrung aus. Wenn die Verwirrung auf eine Frage hin ansteigt, dann ist dies oft ein Zeichen für ein unaussprechbares Nein.
  9. Unzulänglichkeit und Scham können sich auch in ansteigender Anspannung ausdrücken. Das Nein zeigt sich dann darin, dass der Gesichtsausdruck durch einen angespannteren Tonus als vorher geprägt wird oder dass z. B. die Hände auf die Oberschenkel oder gegeneinander gepresst werden.
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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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