Wenn Frau Holle tanzt und die Hexe erzählt

Nele Langeheine arbeitet seit langem mit Märchen in der Beleitung demenziell erkrankter Menschen. In einem Vortrag in Hamburg berichtet sie über ihre Erfahrungen.

 

Einleitung:

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen sie mich meinen Vortrag beginnen mit einem Märchen:

Der goldene Schlüssel

Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bisschen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. „Wenn der Schlüssel nur passt!“ dachte er. „Es sind gewiss kostbare Sachen in dem Kästchen.“ Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein, dass man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der Schlüssel passte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen, und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.

Anleitung:

Auf Ihren Plätzen liegt jeweils 1 Postkarte und 1 Stift.
Malen Sie doch einmal das Kästchen, so wie Sie es sich vorstellen: Wie sieht es aus?
Und auf die Rückseite schreiben Sie einmal auf, was wohl in diesem Kästchen für kostbare Dinge liegen. Tauschen Sie sich kurz mit der Nachbarin/dem Nachbarn aus.

Ich bin überzeugt, dass jetzt so viele unterschiedliche Kästchen und Vorstellungen hier im Raum sind, wie Zuhörer und Zuhörerinnen. Sie haben sich das Märchen bildlich vorgestellt
Deutlich wurde, dass jeder von Ihnen ein ganz persönliches Bild, ein eigenes Erleben von diesem kurzen Märchen hat.


Wie wirken Märchen, worin liegt ihr Zauber?

Märchen kommt von Maere, was so viel heißt wie Kunde, Bericht, Nachricht

Märchen sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selber. Zu jeder Zeit und in allen Ländern der Welt wurden und werden Märchen erzählt. Ursprünglich wurden sie erzählt, um die Weisheiten und Erfahrungen der Menschen weiterzugeben, und sie wurden, anders als heute, in erster Linie von Erwachsenen für Erwachsene erzählt. Die Märchen, die vom Erleben, die von Problemen und deren Bewältigung handelten, die viele Menschen betrafen, die wurden eher behalten und weitergegeben. Es gibt Märchen, die quasi Dauerbrenner auf den Hitlisten sind, und es gibt Märchen, die in Vergessenheit geraten sind. Es gibt die alten Volksmärchen und es gibt Kunstmärchen, dass sind Neuschöpfungen von Dichtern und Schriftstellern, es gibt gelesene und gesprochene Märchen und es gibt Märchenfilme wie Sissy und Winnteou. Die Märchensammlungen der Brüder Grimm sind inzwischen zu einem Kulturgut geworden, sie gehören zu den meist gelesenen Büchern der Welt und sind für alle Altersstufen von hohem Wert. Leider hat ihr Titel: „Kinder- und Hausmärchen“ die Märchen mehr und mehr in die Kinderzimmer verbannt. Es gibt, zum großen Glück für die Märchen und für die Erwachsenen, immer mehr Bestrebungen, die Märchen auch wieder für Erwachsene „hoffähig“ zu machen, vor allem durch die Märchenforschung, die Märchendeutungen und nicht zuletzt durch die Märchenerzählerinnen und –erzähler. Ich erzähle in den Wintermonaten speziell für Erwachsene ein bis zweimal mal im Monat in einem Teehaus mit Cafe Märchen aus aller Welt und auch die Märchen der Brüder Grimm. Das Interesse ist groß, die begrenzten Plätze sind inzwischen lange vorher schon reserviert. Menschen lieben Geschichten und Menschen brauchen Geschichten.

Wieso haben Märchen eine so intensive Wirkung auf die Menschen?

Zum einen liegt es an ihrer Struktur:

Die alten Märchen sind gradlinig und klar konstruiert, sie sind in einfachen Bildern erzählt ohne weit verzweigte Nebenschauplätze. Da trifft Gut auf Böse mit klarem Auftrag, die Figuren handeln, wie es die Situation oder die Rolle vorschreibt.

Zum andern liegt es an ihrem Inhalt:

Es gibt verschiedene Themen in den Märchen: Es gibt z.B. Zaubermärchen und Entwicklungsmärchen, Schwankmärchen und Tiermärchen. Die Geschichten erzählen von Veränderung mit vielen damit verbundenen Gefühlen und sie erzählen von ganz unterschiedlichen Lebensproblemen und deren Lösungswegen. Die Helden und Heldinnen im Märchen müssen Herausforderungen und Prüfungen bestehen, z.B. müssen Hänsel und Gretel mit der Hexe fertig werden und die Königstochter mit dem garstigen Frosch. Oft durchlaufen die Helden und Heldinnen ganze Folgen von Herausforderungen, bis sie endlich am Ziel angelangt sind. Und wenn gar nicht mehr hilft – dann hilft ein Zauber oder ein Wunder. Und was immer auch geschieht: Die Märchen können vermitteln: Es mag so schlimm kommen wie es will, am Ende siegt das Gute. Hinzu kommt die alte, ganz eigene Sprache, in der sie verfasst sind, die viel zur Atmosphäre beiträgt.

Desweiteren liegt es an den Bildern:

Märchen sind deshalb so wertvoll, weil sie in Bildern sprechen und dabei so offen verfasst sind, dass sich jeder Zuhörer die Geschichte ausmalen kann. Märchen sind erzählte Bilder, sie rufen Resonanzen hervor, die sehr individuell sind. Das haben Sie alle eben erlebt anhand der Zeichnung des eisernen Kästchens. Durch diese individuellen Bilder erhalten die Märchen für die Menschen, die sie hören, ganz eigene Bedeutungen. Und dabei gibt es kein richtig und kein falsch.
Es gibt viele Wissenschaftler und auch Therapeuten, die Märchendeutungen verfassen. Ich lese diese gerne und nehme sie als Anregung, um über die Märchen nachzudenken. Doch wichtiger für mich sind die individuellen Echos. Oft reagieren Menschen auf einzelne Szenen oder auf eine Stelle in einem Märchen oder auch auf einzelne Sätze, die eine besondere Bedeutung für sie haben. Diese Ausschnitte bleiben mitunter sehr lange im Gedächtnis, sie können zu Leitsätzen werden, können Mut machen und trösten.
Wenn wir ein Märchen hören oder lesen, dann tauchen wir in die Geschichte ein und schlüpfen mitunter in die Rolle einer der Figuren, wir identifizieren uns mit ihr. Vielleicht hat sie Eigenschaften, die wir auch von uns selber kennen oder sie hat Eigenschaften, die wir gerne hätten. Indem wir das Märchen erleben, können wir im übertragenen Sinn Antworten für eigene Fragen oder Auswege aus schwierigen Lebenssituationen finden. Wir können in unserer Vorstellung so handeln wie der mutige Königssohn oder so machtvoll werden wie die Hexe. Dann sehen wir vielleicht wieder klar und ein neuer Weg tut sich auf.

Wie können Märchen bei Menschen mit Demenz wirken?

Menschen mit Demenz leben in ihrer eigenen, einsamen Welt, zu der wir oft nur wenig oder manchmal auch gar keinen Zugang bekommen. Märchen können da eine Brücke sein zu den Innenwelten dieser Menschen. Sie können zum Kontakt mit den alten Menschen führen, zu herzenswarmen Momenten, vielleicht nur für eine kurze, dafür aber sehr wertvolle Zeit. Diese Menschen brauchen Kontakt, sie brauchen Resonanz, denn Resonanz verringert die Einsamkeit und den Rückzug.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Fähigkeit, Atmosphäre zu schaffen. Nachdem ich eine Erzählveranstaltung in einem Seniorenheim gehalten hatte, bedankte sich eine alte Dame und sagte gerührt: „Das war aber schön!“ Und wenn ich in den folgenden Wochen zu Besuch kam, rief eine andere Bewohnerin freudig: „Die Märchentante kommt wieder!“. Die Atmosphäre kann ich bewusst mitgestalten, ich trage manchmal ein märchenhaftes Kleid und ich schmücke einen Tisch. Das ruhige und langsame Erzählen erreicht die Herzen der alten Menschen.
Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass schon bald nach Beginn des Erzählens sich die Ruhe und Entspannung ausbreiten. Manche Zuhörer und Zuhörerinnen schlafen für kurze Zeit ein. Auch wenn sie dann vielleicht Teile des Märchens nicht mitbekommen haben, es hat anschließend oft eine umso größere Aufmerksamkeit zur Folge. Die zunehmende Beruhigung scheint mit einem inneren Wachwerden verbunden zu sein. Auch unruhig Umherlaufende setzen sich für kürzere oder längere Zeit dazu. Ich habe eine alte Frau mit 96 Jahren in der Erinnerung, die strahlte während einer Erzählstunde über die ganze Zeit und nickte freundlich, während ich den Froschkönig erzählte. Zwischendurch sagte sie immer wieder: „Schön war’s und klatschte Beifall. Die anderen Frauen waren irritiert, ließen sie aber gewähren. Hinterher stellte sich heraus, dass die alte Dame hochgradig schwerhörig war und ihre Hörgeräte nicht trug, sie also kein Wort von der Geschichte verstand. Sie reagierte auf die Atmosphäre und das Beifallklatschen machte ihr offensichtlich größtes Vergnügen und war ihr wichtig. „Schön war´s!“
Das Wohlgefühl hält auch nach den Erzählstunden noch an. So sagte eine alte Frau mit einem Lächeln auf dem Gesicht: „Ich fühle mich so wohl, ich habe Märchen gehört“. Selbst schwerst demenzkranken Menschen können Märchen erzählt werden. Vielleicht können diese Menschen die Worte, die Handlungen  nicht mehr verstehen, aber die Melodie der Stimme erreicht sie.

Märchen knüpfen an das Leibgedächtnis an:

Bei der Demenz sind neuronale Verknüpfungen gestört, neue Informationen und Eindrücke können nicht mehr den vorhandenen zugeordnet und mit ihnen verknüpft werden. Märchen knüpfen direkt an das Leibgedächtnis an, an Erfahrungen, die im Gehirn schon sehr lange gespeichert sind und als wichtig eingestuft werden, Märchen (-figuren) sind im Gedächtnis der dementiell veränderten Menschen tief verankert und mit vielen Emotionen verknüpft. Märchen berühren die Seelen der alten Menschen, denen die Gegenwart immer weiter entrückt, denn Märchen gehen zu Herzen und werden mit dem Herzen verstanden. Menschen, die ihre Angehörigen nicht mehr erkennen, sind in der Lage, Märchen zu verstehen und zu erzählen. So können schon verkümmert scheinende Aspekte der Persönlichkeit wieder lebendig werden. Das zeigt sich z.B. darin, dass sie die Verse und Formeln in den Märchen mitsprechen können, auch wenn sie sonst sich kaum äußern:
„Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hole ich der Königin ihr Kind. Ach, wie gut dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“

Schon die Atmosphäre kann das das Leibgedächtnis aktivieren. Da sind vielleicht die Erinnerungen an die Ruhe und den Trost, den die alten Menschen selber als kleine Kinder empfunden haben, als ihnen Märchen erzählt wurden. Vielleicht erinnern sich die alten Menschen, wie sie selbst ihren eigenen Kindern und Enkelkindern Märchen erzählt oder vorgelesen haben, oder wie Märchen in Notzeiten und Zeiten großer Angst und Bedrohung während des Krieges geholfen haben.
Nun kann ich nicht wissen, welche Resonanzen ein Märchen bei den alten Menschen auslöst, aber wenn ich achtsam bin und im Kontakt bleibe, kann ich die Stimmungen und Regungen mitbekommen. Wenn die Kontrolle über die Gedanken schwindet, wenn die Unterscheidung zwischen früher und jetzt, zwischen Erinnerung und Gegenwart verschwimmt, dann tauchen die Menschen in altes Erleben, in alte Filme ein und erleben sie, als wären sie Wirklichkeit und Gegenwart. Es kann ein schöner, angenehmer Film sein, gefüllt von glückseligen tröstenden Erinnerungen, es kann aber auch ein grausamer Film sein, da können Schreckensbilder hervortreten, können Kriegsszenarien und Gewalterleben die innere Bühne betreten. Ich habe in einem Pflegeheim einmal Jorinde und Joringel erzählt, da wird Jorinde ja von einer Hexe in eine Nachtigall verwandelt. Eine der Zuhörerinnen sagte bei dieser Szene immer wieder: „Ach wie schrecklich!“
Ich habe das Märchen nicht weitererzählt sondern bin auf das Erleben der Frau eingegangen. Sie rief dann: „Wir müssen weg, die Russen kommen!“Erschreckt hat sie dieses Ausgeliefertsein, das hat sie erinnert an ihre eigene Hilflosigkeit während des Krieges. Erst als ich ihr versichern konnte, dass in dieses Haus, in diesen Aufenthaltsraum kein feindlicher Soldat eindringen kann, konnte sie sich beruhigen.

Märchen zeigen Gefühle:

In passender Verkleidung ist es beim Zuhören möglich, Gefühle zuzulassen und auszudrücken. Gefühle können in die Märchenfiguren schlüpfen. Die böse Stiefmutter, die ihr eigenes Kind verstößt, kann abgrundtief verachtet und beschimpft werden, weil die alte Frau, die das Märchen hört, alles getan hat, um ihre eigenen Kinder in der harten Zeit des Krieges durchzubringen. Vielleicht erinnert das Märchen an die erlebte Flucht. Die Vertreibung kann nicht rückgängig gemacht werden, aber die Empörung über Fremdbestimmung und Willkür ist mitteilbar.
Erinnern Sie sich an Schneeweißchen und Rosenrot? Die beiden so braven und überaus guten Kinder, die alles für die Mutter tun und kein Hauch von Böse an sich haben? Es erzählt von einer tiefen menschlichen Sehnsucht nach Geborgenheit, Sicherheit und dem Glück, gegen alle Widrigkeiten des Lebens gewappnet zu sein, es weckt Sehnsüchte. Aber es kann auch geschehen, dass die Geschichte ganz anders aufgenommen wird, wie ich es bei einer alten Dame erlebt habe, die Partei für Schneeweißchen ergriff und empört ausrief: „Immer putzen und schrubben! Ohne Lohn und Dank! Darf nicht hinaus, um mit den anderen Kindern zu spielen, so unbarmherzig ist die Mutter!“ Sie erzählte damit wohl von ihrem eigenen mühsamen Leben als Mädchen in einer kalten und harten Zeit. Und als ich fragte, was Schneeweißchen denn da wohl tun könnte, um aus dieser schwierigen Situation herauszukommen: „Die muss früh heiraten, einen schmucken Offizier, dann hat die Plackerei ein Ende!“.

Märchenhaben Bewältigungsstrategien

Die Helden und Heldinnen in den Märchen finden immer Lösungen, um aus einer Gefahr oder schwierigen Lebenssituation herauszukommen. Märchen bieten in großer Vielzahl Bewältigungsstrategien für alle möglichen Probleme an. Ich kann auf diese Lösungen im Gespräch kommen. Wichtig dabei ist es, immer wieder eine Verbindung zum Erleben des alten Menschen finden und die persönliche Bewertung mit hineinzunehmen, etwa durch Fragen wie: „Wie finden Sie das?“ Oder: „Was meinen Sie, was kann Schneewittchen da tun?“.
Die Fähigkeit der inneren Bilder und die Möglichkeit, sich mit den Protagonisten zu identifizieren, machen die Märchenarbeit mit Demenzkranken sehr wertvoll. Sie können in die Haltung der Märchenfiguren gehen. Vielleicht ist es der geheime Wunsch, stark und unerschrocken sich den Wirrnissen zu stellen, oder die Sehnsucht, einmal als Königin oder Zauberer von den Beschwerden des Alltags erlöst zu werden. Durch die Identifikation mit den Helden und Heldinnen neue Verhaltensweisen ohne Angst vor Sanktionen ausprobiert werden. Da kann die alte Frau einmal der Hexe ihre Stimme geben, selber zur Hexe werden, im Schutz des Märchens  garstig und wütend sein und einmal erzählen, was ihr alles zuwider läuft und die bestrafen, die einem das Leben manchmal schwer machen. Als Zauberer habe ich die Macht, die ich im Altenheim vielleicht verloren habe, weil da andere sind, die mehr Macht haben, auch über mich. Da kann der alte Mann einmal als König auftreten und Recht und Ordnung sprechen, verurteilen und Gnade walten lassen. Ein alter Mann hat einmal gesagt: „Wenn ich hier König wäre, dann gäbe es nicht 3 Tage hintereinander Linsensuppe, nur weil so viel gekocht wurde!“

Anleitung:
Stellen Sie sich einmal vor, Sie könnten in die Rolle einer Märchenfigur schlüpfen: Welche Figur wäre da wohl? Vielleicht ein König oder eine Königin? Eine Hexe? Eine Prinzessin oder Aschenputtel? Was hat die Figur an? Wie bewegt die sich? Welche Eigenschaften hat sie?
Tauschen Sie sich kurz mit dem Nachbarn aus
Mögen 3 auf die Bühne und einmal ihre Figur vorstellen?

Umschreiben und Neuerfinden
Ich kann mit den Menschen die Märchen umschreiben, ganz persönliche, eigene Geschichten daraus werden zu lassen. Wir können uns zusammen in dem Märchen bewegen, dann ist das ursprüngliche Märchen gar nicht mehr vorrangig, dann geht es allein um das Erleben des alten Menschen. Im Kontakt können eigene Lösungsstrategien mit hineingegeben werden.
Natürlich kann ich auch eigene Märchen erfinden, kurze oder lange Geschichten. Ich kann aus der Situation heraus meine Fantasie spielen lassen und ein Stehgreifmärchen erzählen. Das ermöglicht Kontakt und Aufmerksamkeit, es kann trösten und froh machen. Und wenn ich die ältliche typische Märchensprache ein wenig beherrsche, dann hört sich mein Märchen ganz wie die alten an.

 

Das Erzählen

Voraussetzungen
Eine Erzählstunde bei demenzkranken Menschen läuft ganz anders als eine Erzählstunde bei orientierten Menschen. Denn ich kann nicht einfach Märchen erzählen und dann die alten Menschen damit allein lassen. Märchen rufen, wie bereits gesagt, Echos hervor, das können angenehme oder eben auch unangenehme sein, darum muss ich wissen.

Auswahl der Märchen

Es gibt keine feste Regel, welche Märchen den demenzkranken alten Menschen angeboten werden sollen. Ich kann Märchen aussuchen, von denen ich annehme, dass sie bei den Menschen Resonanz auslösen, vielleicht auch, weil ich etwas über ihre eigene Geschichte und Biographie weiß. Aber es kann – wie im Märchen – auch ganz anders kommen. Alte Menschen lieben es, wenn man ihren ohnehin schweren Alltag leichter macht, sie hören gern lustige, heitere Märchen und sie lieben es, Bekanntes wiederzuhören.
Ich habe einen Angebotskoffer neben meinem Utensilienkoffer mit, darin sind etwa
4-5 unterschiedliche Märchen.
Dann wähle ich nach der Atmosphäre aus. Aber es müssen nicht nur bekannte Märchen sein, auch für die Zuhörerinnen unbekannte können tief berühren.
Daneben gibt es auch Märchen, die schwere Lebenssituationen schildern. Die werden in der Erinnerung gern noch einmal durchgestanden. Das Erinnern scheint eine wohltuende, befreiende Wirkung zu haben.
Beliebt ist z.B. das Märchen Hänsel und Gretel, da sich viele alte Menschen mit den Bildern von Hunger, Vertreibung, Schrecken und Angst identifizieren können. Wenn die Atmosphäre eher lustig und entspannt ist, dann erzähle ein Schwankmärchen wie Das kluge Gretel oder Doktor Allwissend, das sind heitere, einfache Geschichten. Wenn die Atmosphäre sehr unruhig ist, kann ich beruhigende Märchen anbieten, wie Dornröschen. Doch jedes Märchen löst Resonanzen bei den Zuhörern und Zuhörerinnen aus, und die kann ich nicht vorhersehen.
Wenn ich mehrere Märchen erzähle, fange ich meist mit einem sehr kurzen Märchen an, von etwa 3 Minuten, zum „Einhören“, Einstimmen. Dann folgt das „Hauptmärchen“ oder auch mehrere, die einzelnen Geschichten sollten nicht länger als 10 Minuten dauern.
Ich bereite ein Programm vor und stelle mich darauf ein, innerhalb von Sekunden alles über den Haufen zu werfen.

Vorbereitung, Ankündigung:

Es ist schön, wenn das Erzählen angekündigt wird, damit sich die Bewohner, sofern es ihnen möglich ist, darauf einstellen können. Freiwilligkeit es Zuhörens ist oberstes Prinzip und sollte nicht aus Kostengründen vernachlässigt werden. Ich finde es hilfreich, wenn MA bei den Erzählstunden dabei sind, sie können sie die veränderte Stimmung und das veränderte Verhalten der Bewohner miterleben und sie wissen, welche Märchen noch im Sinn sind, wenn sie die Bewohner später betreuen.

Vorbereitung des Raums:

Ich erzähle gern in einem offenen Raum, damit die Bewohnerinnen und Bewohner aufstehen, umhergehen, den Raum verlassen und wiederkommen können. Hilfreich ist es, wenn der Raum etwas abgeschirmt von den Geräuschen der Station ist, sonst sind die Zuhörer zu sehr irritiert und abgelenkt. Ich habe immer einige Utensilien dabei, mit denen ich einen Märchentisch schmücken kann, dazu gehören Kerzen, Samt und einige Märchensymbole, und für alle Sinne ist etwas dabei wie frische Tannenzapfen oder Blumen. Wenn schon Bewohner im Raum sind, sehen sie gerne zu, wenn ich den Tisch schmücke. Manchmal gelingt es auch, sie zum Mitmachen zu animieren. So beziehe ich sie immer mit ein, indem ich um ihre Meinung und Rat frage. So tue ich etwas mit ihnen statt sie „nur“ zu unterhalten.

Das Ankommen:

Bis alle einen guten Platz gefunden haben, braucht es Zeit, die Bewohner und Bewohnerinnen sollen in Ruhe in den Raum kommen oder gebracht werden können, daher ist eine Planung des Ablaufs, der vorher besprochen wird, sehr hilfreich. Schön ist es, wenn die Zuhörer in einem Halbkreis sitzen können, das stärkt das Zugehörigkeitsgefühl und ermöglicht mir den Kontakt zu jedem einzelnen. Die Bewohner, die schlecht hören können, müssen in meiner Nähe sitzen.
Vielleicht ist es auch möglich, um den geschmückten Tisch zu sitzen. Bis alle gut angekommen sind, kann es einige Zeit brauchen, möglicherweise langweilen sich die Bewohner, die schon zeitig in den Raum gekommen sind, ich habe es auch schon erlebt, dass sie dann einfach wieder gegangen wind, weil ja nichts los war und sie wussten nicht, was sie da sollten. Da hilft ein persönliches Gespräch, vielleicht auch ein gemeinsames Lied, um die Wartezeit zu überbrücken. Märchen erzähle ich erst, wenn alle da sind, weil es sonst zu berechtigtem Unmut bei den später Kommenden kommen kann.

Begrüßung:

Ich begrüße die Anwesenden und gebe jedem die Hand. Dies wirkt wie eine Einladung und zeigt auch meine Wertschätzung.
Schön ist am Anfang, zwischen den einzelnen Märchen und auch am Ende ein Instrument zum Klingen zu bringen, ich nehme gern ein Shanti, auch eine Tenor-Flöte, mit ihrem weichen warmen Klang. Auch eine keltische Harfe oder Leier eignen sich – wenn kein Instrument da, geht es auch mit der eigenen Stimme.

Erzählen:

Während des Erzählens bin ich sehr aufmerksam für Gefühle und andere leibliche Regungen und ich bin offen für Überraschungen. Da ist vielleicht eine alte Frau, die nicht mehr äußern kann, dass ihr das Märchen Angst macht, aber sie zeigt es mit ihrem Körper, mit ihrer Mimik. Das Erzählen hat Vorteile gegenüber dem Vorlesen, denn dann kann ich die Menschen anschauen. Auch bringt das frei gesprochene Wort erst die lebendige Bildhaftigkeit der Märchensprache voll zur Entfaltung. Wichtig ist dabei, das Märchen laut genug und langsam zu erzählen. Die Seele muss mitkommen können, die Menschen müssen Zeit haben, ihre inneren Bilder entstehen zu lassen. Während des Erzählens kann ich innehalten und fragen: „Gefällt Ihnen das Märchen?“ So spielt wieder die schon erwähnte Resonanz eine große Rolle: Die Resonanz, die das Märchen bei den Bewohnern auslöst und meine Resonanz bezogen auf die Zuhörer und Zuhörerinnen. Wie wirkt das Märchen? Wirkt es beruhigend oder anregend, erfreut es oder verärgert es?
Es ist auch möglich, mit den Bewohnern die Bewegungen, die im Märchen vorkommen, zusammen zu machen, wie: Faden spinnen oder mit der Axt hauen, auch dann können sie mitmachen und sind nicht nur auf das Zuhören reduziert.
Es geht hier nicht um das wortgetreue Erzählen von mehreren Märchen, es geht hier um das Erleben der Menschen mit Demenz. Dann kann es gut möglich sein, dass das Märchen seinen eigenen Weg geht, dass es verändert wird, neu erfunden, weiter gesponnen. Da kann Frau Holle anfangen zu singen:“ oh wie wohl ist mir am Abend“, da kann die Hexe einmal von sich erzählen, wie doof das ist, immer Kinder zu mästen, weil sie Hühner viel lieber isst…

Beenden:

Auch das Ende der Erzählstunde braucht Ruhe und Zeit. Ich habe erlebt, dass die Bewohner noch sitzen geblieben sind und mir beim Einpacken zugeschaut haben, manche freuten sich, wenn sie helfen konnten. Jede Bewohnerin/jeden Bewohner verabschiede ich persönlich und freue mich oft über das Glänzen in den Augen

Ausblick

Märchen können einen wertvollen Beitrag zur Altenarbeit leisten mit Menschen, die sich sprachlich nicht oder nur unvollständig verständlich machen können. Um eine längerfristige Wirkung zu erzielen, sollten die Angebote beständig bleiben und nicht einmalige Ereignisse bleiben. Das Erzählen sollte in den Alltag integriert werden und wenn ergänzende Aktivitäten hinzukommen, können die Angebote nachhaltig wirken. Hilfreich ist es, wenn MA teilhaben an den Veranstaltungen. So können sie erfahren, welches Märchen erzählt und behandelt wurde, und können die späteren Äußerungen und Regungen der Bewohner besser nachvollziehen. Vielleicht bekommen die MA ja auch einmal Lust, Märchen zu erzählen bei der Pflege, das können kleine frei erfundene Geschichten sein, die das Herz der alten Menschen erfreuen und ihr Erleben widerspiegeln. Die MA haben doch kreative Fähigkeiten und Interessen, die allzu oft brach liegen.
Wenn Märchen zum festen Bestandteil der Betreuung werden, können sie helfen, den Kontakt, die Orientierung und das Gerichtetsein zu fördern. Märchen können die Demenz nicht heilen, aber sie können den dementiellen Prozess verlangsamen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und stehe für Fragen gerne zur Verfügung

About Nele Langeheine

Kreative Leibtherapeutin AKL, Kunsttherapeutin, Fachtherapeutin für Kreative Traumatherapie und Kreative Gerontotherapie (SMEI), Heilpraktikerin für Psychotherapie, Kinderkrankenschwester und Märchenerzählerin

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