Frausein ist mehr als Sexualität (und Mannsein auch)

Geschlechtliche Identität und ihre Herausforderungen in der Altenhilfe

Es gibt keine Altersgrenze für Sexualität. Sexualität ist für ältere Menschen ein Thema und oft ein Bedürfnis. Nicht für alle, aber für viele. Für alle ältere Menschen gilt, dass sie nicht ab einem höheren Alter geschlechtsneutral werden. Sie sind und bleiben Frauen und Männer, Menschen mit geschlechtlicher Identität. Geschlechtlichkeit ist mehr als Sexualität, sie ist ein Teil der Identität eines Menschen.

Diese so selbstverständlich klingen und vielleicht sogar banal anmutenden Aussagen haben, wenn sie ernst genommen werden, Konsequenzen für den Umgang mit alten und an Demenz erkrankten Menschen. Wir betrachten zunächst schwerpunktmäßig die Identität alter Frauen.

Identität

Die Identität ist das Besondere, das Einzigartige jedes Menschen (iden = unverwechselbar), das woran wir ihn „identifizieren“ können (und er sich selbst). Dazu zählen manchmal Passfoto und Fingerabdrücke, doch viel mehr und viel bedeutsamer die Charaktereigenschaften eines Menschen, seine Kostbarkeiten und Schwächen, die Summe der erworbenen Erfahrungen ebenso wie die Träume und Sehnsüchte usw. Die Identität umfasst geistige, seelische, körperliche und soziale Aspekte. Sie entwickelt sich und ist nie statisch. Die Identität ist immer biografisch gewachsen, ist Prozess.  Und sie ist nicht geschlechtsneutral. Das Frausein beginnt mit dem Frau-Werden als Mädchen, ja als Säugling, und endet erst mit dem Tod.

Und in der Identität kommen immer Eigenes und soziale Umwelteinflüsse zusammen. Da ist der Blick von außen: Wie werde ich als Frau gesehen? Wie  als Frau behandelt? Und der Blick von innen: Wie sehe ich mich als Frau, wie schätze ich mich als Frau ein? Was macht mich aus und was unterscheidet mich von anderen?

Der Erhalt und die Entwicklung der weiblichen Identität alter Frauen ist abhängig von den Beziehungserfahrungen, die sie machen. Denn es sind die vergangenen und vor allem die immer wieder aktuellen Erfahrungen in den Begegnungen mit anderen Menschen, die fördern (oder hindern), ob sie sich als Frau fühlen können und als solche gewürdigt werden.

 

Beziehungserfahrung: Spiegel

Beziehungserfahrungen prägen die geschlechtliche Identität in mehrerer Hinsicht. Die Frauen brauchen Menschen, die sie spiegeln. Sie benötigen die Erfahrung, dass andere Menschen ihre Würde und ihren Selbstwert als Frauen schätzen und unterstützen. Daraus kann ein Gefühl der Selbstwürdigung entstehen oder wachsen.

Wie ist es hinsichtlich solcher Erfahrungen um alte Frauen und vor allem diejenigen mit Demenz bestellt? Schlecht. Bei den meisten Frauen dieser Generation, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit „ihren Mann gestanden“ hat, aber dann in der Wiederaufbauzeit wieder „ins zweite Glied“ zu Heim und Herd zurückkehren musste, ist ihre Selbsteinschätzung davon geprägt, dass ihnen Selbstwürdigung nicht zusteht. Orientierungen wie Unterordnung, Pflicht, Zurückstehen hinter den Bedürfnissen von Mann und Kindern, Genügsamkeit und Bescheidenheit – darin wurden sie gespiegelt, aber nicht gewürdigt, weder von anderen noch in ihrer Selbstwürdigung. „Ich bin nicht so wichtig“, hören wir oft.

Und nun das hohe Alter, und nun die Demenz. Viele Frauen werden nicht genug gewürdigt. Sie erfahren Spiegelungen v. a. in ihren Schwächen und Unzulänglichkeiten. Nicht einmal das, was sie früher konnten: für andere leben und arbeiten, können sie noch. Sie erleben sich, dass sie „zu nichts mehr nutze“ sind. Wir, die jüngeren Generationen, müssen den Schmerz dieses Identitätsverlustes als Frau ernst nehmen. Und wir sollten sie würdigen als diejenigen, die tatkräftig waren u n d  hilfsbereit, pflichtbewusst und sorgend – und die jetzt im Alter die Fürsorge anderer „verdient“ haben.

Zur Selbstwürdigung als Frau gehört oft auch, „sich schön“ zu „machen“, für den Mann oder für den Kirchgang, für einen Festtag oder um im Alltag stolz auf sich sein zu können. Dies zu unterstützen und bei der Kleiderauswahl oder beim Schminken zu helfen, fördert das Wachstum der Selbstwertschätzung.

 

Beziehungserfahrung: Wirksamkeit

Alle Menschen brauchen die Erfahrung und das Gefühl, dass sie wirksam sind und nicht ins Leere gehen. Diese Wirksamkeitsgefühle sind den meisten Menschen selbstverständlich. Deutlich werden sie erst, wenn sie eingeschränkt sind oder fehlen. Wenn ältere Frauen etwas gestalten können, vom Kartoffel-Schälen über das Kuchenbacken bis zur gemalten Stoffbatik, dann entsteht nicht nur ein Produkt, sondern zumeist auch ein Lächeln, ein Gefühl des Stolzes, etwas „geschafft“ zu haben. Das Gefühl, „zu etwas gut zu sein“, ist Teil der Identität.

Ein besonders wesentlicher Aspekt der Wirksamkeit ist die Beziehungs-Wirksamkeit. In Beziehungserfahrungen unwirksam zu sein und ins Leere zu gehen, killt die Beziehungen und beeinträchtigt die Identität, die Selbstverständlichkeit des Selbstwertgefühls. Wer ins Leere geht, erfährt: Ich bin es nicht wert, dass ich wirksam bin.

Eine Umfrage von Bewohner/innen in zwei Altenheimen ergab, dass es für die Befragten besonders wichtig war, sich verantwortlich zu fühlen und Verantwortung zu übernehmen. Die deutlich meisten Männer betonten, dass „die Arbeit“ besonders wichtig gewesen sei, und erwähnten, dass sie als Verdiener oder Hauptverdiener damit Verantwortung für „die Familie“ übernommen hätten. Die deutlich meisten Frauen erzählten, dass für sie die Beziehung zu den Kindern die höchste Bedeutung hatte und hat.

Verallgemeinernd kann die These aufgestellt werden, dass bei den Männern die „Handlungswirksamkeit“ im Vordergrund steht, bei den Frauen die „Beziehungswirksamkeit“. Sie sind oft die Beziehungsexperten in ihren Familien gewesen und hatten dort Wirksamkeitserfahrungen, die ihre Identität prägten.

Doch nun? Im Alter, in der Demenz? Ihre Wirksamkeit lässt nach. Sie können sich oft nicht aussuchen, mit wem sie zusammenleben, sie gehen mit vielen Bedürfnissen und Impulsen ins Leere, weil sie sie nicht mehr so artikulieren können, dass sie gehört werden, oder weil andere sie nicht hören wollen oder können. Beziehungswirksamkeit benötigt, dass Menschen gehört werden und dass sie Wahlmöglichkeiten haben. Das scheitert bei einer Frau mit Demenz oft schon an der Frage, ob sie den Kaffee mit oder ohne Milch haben möchte. Frau Gottlieb wird danach gefragt, doch ihre Antwort dauert länger, als die Fragende Geduld hat. Bis Frau Gottlieb den Kopf schütteln kann, ist die Tasse schon mit Milchkaffee gefüllt, denn „das wollen ja die meisten“ – die meisten ja, aber Frau Gottlieb nicht.

Dies mag wie ein banales Beispiel klingen, doch für Menschen wie Frau Gottlieb sind solche Erfahrungen nicht banal. Für sie akkumulieren sich Erfahrungen: Ich bin es nicht wert, dass man meine Antworten abwartet, sie hört; ich bin nicht wirksam auf andere Menschen. Und als Frau? War ich es jemals wert, gefragt zu werden, Wahlmöglichkeiten zu haben? Habe ich nicht immer schon die Erfahrung machen müssen, dass meine Bedürfnisse als Frau nicht wirklich wichtig waren? Werde ich im Heim gefragt, mit wem ich lieber zusammen bin, mit Frauen oder mit Männern? Werde ich gefragt, welchen Schmuck ich anziehen möchte? …

Jede Person, die Frauen mit Demenz begleitet, sollte sich fragen, wie beziehungswirksam diese Frauen sein dürfen, auch den Begleitenden gegenüber.

 

Beziehungserfahrung: Schutz

Die Hälfte bis zwei Drittel der älteren Frau haben in ihrem Leben Gewalt- und andere traumatische Erfahrungen machen müssen. Das heißt, sie mussten die Erfahrungen machen, dass ihr Nein nicht geachtet wurde und dass sie schutz- und hilflos waren. Das hat häufig ihre Identität als Frau geprägt, zumindest beeinflusst. Mit solchen Schreckenserfahrungen blieben die meisten Frauen allein, erhielten weder Trost noch Unterstützung. Lange Jahre oder Jahrzehnte wurde dieses Erleben verdrängt oder abgespalten. Im Alter und in der Demenz lässt die Kraft nach, die Schreckenserinnerungen zu bändigen und zu kontrollieren. Die Dämme brechen und der Schrecken wird oft wieder lebendig. Nicht nur aber vor allem bei den Frauen: Bomben, Flucht, Hunger, Vergewaltigungen … Wer Frauen mit Demenz pflegt oder begleitet, muss darum wissen. Wenn Frauen unruhig werden und ängstlich auf Wanderschaft gehen, kann dies Ausdruck demenzieller Desorientierung sein oder eine Wiederbelebung von Fluchterleben am Ende des zweiten Weltkrieges. Wenn Frau schreien oder erstarren, wenn sie in der Pflege berührt werden, kann dies auf Vergewaltigungserfahrungen oder deren Zeugenschaft hinweisen.

All das braucht Wissen und möglichst Kompetenzen unterschiedlichen Umgangs mit den betroffenen Frauen. In jedem Fall muss klar sein, dass diese Frauen Schutz brauchen, Schutz vor Aggressivität und Gewalt, Schutz davor, Kriegsgeschichten oder frauenverachtenden Witze von Männern im Altenheim hören zu müssen oder im Rollstuhl vor den Fernseher gesetzt zu werden und die Filmberichte über die Ukraine und den Irak sehen zu müssen. Letztere wühlen den Schrecken wieder auf und produzieren Angst und Hilflosigkeit. Sicherlich können Trigger, die traumatisches Erleben wiederbeleben, nie vermieden werden. Aber vor denjenigen, die bekannt sind, müssen die Frauen beschützt werden. Und es ist ein Klima in jeder Einrichtung notwendig, das ein NEIN zu Gewalt und Aggressivität ebenso beinhaltet wie eine Haltung des Schutzes der Frauen.

 

Beziehungserfahrung: Nähe

Die Befragungen und Studien über Sexualität und Geschlechtlichkeit alter Menschen zeigen, dass im zunehmenden Alter Begegnungen der Nähe, der Zärtlichkeit und der Geborgenheit größere Bedeutung in den geschlechtlichen Beziehungen erhalten als im engen Sinn sexuelle Handlungen.

Auch alte Frauen haben Interesse an Geschlechtsverkehr, an Sexualität im engeren Sinn. 25% der über 80jährigen Frauen, die in einer Partnerschaft leben, bezeichnen sich als „sexuell aktiv“. Nach einer Umfrage in der deutschsprachigen Schweiz wünschen sich 30 % der Frauen, die älter als 75 Jahre sind, Geschlechtsverkehr, 7% praktizieren ihn. Diese Zahlen sind sehr viel kleiner als die der Männer. Das Interesse dieser Frauen richtet sich mehr auf Zärtlichkeit, auf Nähe in Blicken und Berührungen. Sexualität umfasst in einem weiten Verständnisdiese ein breites Spektrum von Körpererleben, von zärtlichen Berührungen und wärmenden Blicken bis zu sexuellen Höhepunkten. Offenbar wird für ältere Menschen dieser weite Aspekt der Sexualität immer bedeutsamer. All dies sind Beziehungserfahrungen, die auch Frauen mit demenziellen Erkrankungen machen dürfen und die ihnen ermöglicht werden sollten. Die Wärme in der Stimme, der interessierte Blick und das oft belächelte „Händchenhalten“ sind Beziehungserfahrungen, die die weibliche Identität der älteren Frauen bewahren und fördern.

 

Und die Männer?

Das meiste, was zur geschlechtlichen Identität älterer Frauen gesagt wurde, gilt auch für ältere Männer und insbesondere Männer mit Demenz. Auf einige Unterschiede wurde hingewiesen. Einige Ergänzungen:

So wie manche Menschen in manchen Kontexten ihren Körper nahezu gewaltsam trainieren oder operieren und dabei Leistungsorientierung das Körpererleben überdeckt, so kann auch die Sexualität als pure Körperfunktion vom Erleben abgespalten werden. Dies ist der Boden dafür, dass manche Menschen, insbesondere Männer in zunehmendem Alter sexuell zunehmend leistungsorientiert werden, nicht altern wollen oder können und oft auch übergriffig werden. Wenn der Körper zum Objekt wird, werden auch andere Menschen leicht zum Objekt und als solche behandelt. Hinzu kommt, dass manche Männer Täter waren und durch demenzielle Erkrankungen keinen besseren Charakter erworben haben.

Wenn der Blick auf die geschlechtliche Identität, und hier insbesondere bei Männern, auf das Sexuelle verengt wird, dann leistet das solchen Abspaltungen Vorschub. Sexualität gehört bei Männern wie bei Frauen zu den Bedürfnissen, die respektiert werden müssen, ohne Tabu, aber auch ohne sie zu Aufgaben der Pflege zu machen. Die Sexualität von Männern zu bedienen (z. B. durch „Sexualbegleiterinnen“), kann unseres Erachtens nicht Aufgabe von Einrichtungen der Altenhilfe sein. Aufgabe ist eher der alltägliche Schutz von Intimität für Männer und Frauen, zum Beispiel durch Zeiten, in denen Zimmer nicht betreten werden, was für sexuelle Aktivitäten genutzt werden kann.

Auch viele alte Männer sind traumatisiert, doch nicht so häufig durch sexuelle Gewalt, sondern durch andere Entwürdigungen und Bedrohungen. Auch viele Männer brauchen und suchen Nähe, Wärme, Zärtlichkeit, können dies aber oft nicht zeigen. Auch ältere Männer stehen in einer Geschichte ihrer Identitätsentwicklung, die durch Erfahrungen von Wirksamkeit (und ihrem Gegenteil) geprägt sind. Im Vordergrund steht meist die erwähnte „Verantwortungs-Wirksamkeit“: wirksam sein durch Arbeiten, durch Handeln, und dadurch Verantwortung in den Beziehungen übernehmen. Diese fällt weg durch Gebrechlichkeit und demenzbedingte Veränderungen. Hier Wege zu finden, wie auch diesen Männern jenseits von Basteln und Kartoffelschälen wenigstens einige Wirksamkeitserfahrungen ermöglicht werden, ist eine Aufgabe, die noch zu lösen ist.

 

Quelle: Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2014): Frausein ist mehr als Sexualität (und Mannsein auch). In: demenz 23 / 2014 zum Thema: Frauen: Umbrüche, Ausbrüche, Aufbrüche

About Udo Baer und Gabriele Frick-Baer

Udo Baer Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor Gabriele Frick-Baer Dr. phil. (Erziehungswissenschaften), Diplom-Pädagogin, Kreative Leib- und Trauma-therapeutin AKL, Vorstandsmitglied der Stiftung Würde und wissenschaftliche Leitung der Kreativen Traumahilfe der Stiftung Würde, Ehrenvorsitzende der Assoziation Kreativer Leibtherapeut/innen e.V. (AKL), kreative leiborientierte Traumatherapeutin (ZKW-tk), Autorin

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