„Der hat mir wieder an den Busen gegriffen …“

Intimität und Grenzverletzungen gegenüber Pflegenden

So wichtig es ist, pflegebedürftige alte Menschen vor Gewalt jeder Art zu schützen, so wenig dürfen gewalttätige Grenzverletzungen gegenüber Pflegenden tabuisiert werden. Sexuelle und andere gewalttätige Übergriffe alter Menschen sind im Pflegealltag kein Randproblem. Das bestätigen mehrere Befragungen und Studien.

 

Zahlen

„In einer im Jahre 2006 durchgeführten Studie gaben von 407 befragten Schülerinnen und Schülern der Gesundheits- und Krankenpflege aus Deutschland und Österreich 44% der Befragten an, sich einmal oder mehrmals bedroht gefühlt zu haben; 75% hatten einen verbalen Angriff bzw. wüste Beschimpfungen erlebt und 35% waren schon einmal oder mehrmals in der Berufsausübung tätlich angegriffen worden.“ (Nau 2013, S. 402) Görgen und Mitarbeiter/innen befragten Pflegekräfte ambulanter Pflegedienste. „Jede sechste befragte Pflegekraft gab an, innerhalb des vergangenen Jahres sexuell belästigt worden zu sein.“ (zit. nach Nau, S. 331)

 

Fach-Professionalität und Herz-Professionalität

Solche Gewaltakte und aggressiven Übergriffe gelten vor allem pflegenden Frauen und beinhalten häufig sexuelle Gewalt. Die betroffenen Mitarbeiter/innen hören oft, wenn sie trotz ihrer Beschämung über solche Erfahrungen zu sprechen wagen: „Damit müssen Sie professionell umgehen!“ – Doch was heißt das? Alles wegstecken und „Schwamm drüber“? Was heißt professionelles Handeln? Unserer Meinung nach beinhaltet „Professionalität“ zweierlei: die Fach-Professionalität und die Herz-Professionalität.

Der Aspekt der Fach-Professionalität legt den Schwerpunkt auf das Wissen um die Hintergründe des übergriffigen Verhaltens und die verschiedenen Möglichkeiten des Umgang mit verletzendem Verhalten. Das dient dazu, das übergriffige Verhalten einordnen zu können und es nicht nur persönlich zu nehmen. Gleichzeitig erleben die Pflegenden die Übergriffe und Verletzungen auch persönlich. Wie denn sonst? Sie treffen sie auch als Person, oft in ihrer Intimität, in ihrem Herzen. Und das ist ernst zu nehmen. Denn ohne Herz-Professionalität ist die Fachprofessionalität nichts. In der Pflege und sonstigen Begleitung alter Menschen entsteht Nähe und muss Nähe entstehen, auch emotionale, wenn Pflege und soziale Arbeit gut sein soll. Empathie, einfühlendes Verhalten, eine Kommunikation, die über Sachinformationen hinausgeht – all das ist nicht nur Nebenerscheinung einer humanen und würdigenden Pflege, sondern Kernbestandteil (sollte es zumindest sein). Deswegen muss auch die Herz-Professionalität in Bezug auf die Intimität und den Umgang damit in besonderer Weise betrachtet werden.

 

Intime Nähe als Grunderfahrung der Pflege

Wir Menschen spüren alle, wenn wir darauf achten, einen Raum, den wir „Intimen Raum“ nennen. Er erscheint weder in Anatomieatlanten noch auf Röntgenbildern, doch jeder Mensch kann ihn spüren als erlebten Raum besonderer Intimität. Dazu zählt vor allem der Körperraum als Raum besonderer Intimität, an den Menschen, wenn sie die Wahl haben, nur ausgewählte und besonders vertrauenswürdige Menschen heranlassen oder sich von ihnen berühren lassen. Die Grenzen dieses Intimen Raums bedürfen besonderen Schutzes.

In der Pflege ist dieser Schutz allerdings eingeschränkt. Wie das Wort „Intimpflege“ schon sagt, „betreten“ und berühren Pflegende den Intimen Raum der Klient/innen und Patient/innen. Dies ist oft notwendig. Doch auch hier muss die Grenze geachtet werden: Manchmal reicht es schon, wenn Pflegende sich ihrer Achtung vor der Grenze der Intimität bewusst sind und sie aussprechen oder „innerlich anklopfen“, wie es eine Pflegende einmal ausdrückte.

Die gezwungenermaßen vorhandene Berührung des Intimen Raums alter Menschen rechtfertig keine Verletzung der Grenzen der Intimität der Pflegenden. Insbesondere bei Menschen mit Demenz kann die intime Pflegeerfahrung dazu führen, dass sie Pflegemitarbeiter/innen z. B. mit Ehepartner/innen verwechseln und aus dieser Verwechslung heraus Mitarbeiter/innen verletzend berühren. Das mag erklärbar und sogar verständlich sein, doch auch hier haben die Pflegenden das Recht und die Pflicht, ein möglichst unaufgeregtes aber deutliches STOP zu setzen. Menschen, die aus Demenz-begründeten Verwechslungen heraus Pflegekräfte in ihrer Intimität verletzen, sind, wenn sie dieses STOP hören, meistens über sich erschrocken und schämen sich. Sie reagieren also so, dass die Beziehung nicht dauerhaft beschädigt wird und die gegenseitige Achtung erhalten werden kann.

 

Schutz der Intimität: immer!

Grenzverletzungen seitens alter und an Demenz erkrankter Menschen gegenüber Pflegenden mit Professionalität zu betrachten, heißt, sie zu verstehen, beinhaltet aber nicht, sie zu akzeptieren. Die Intimität der Pflegenden ist immer schutzbedürftig und schützenswert. Wer hier aufgrund der eigenen biografischen Erfahrungen nur schwer oder gar keine Grenzen setzen kann, braucht die Unterstützung anderer. Wer hier keine klaren Grenzen setzt, duldet weitere Verletzungen, der eigenen Person und der Kolleg/innen. Jedes fehlende STOP ist eine versteckte Ermutigung. Das gilt auch für die Übergriffe, die aus Verwirrung, demenziellen Verwechslungen oder Überforderungen alter Menschen entstehen. Der Schutz der Intimsphäre ist Teil der Professionalität. Wer Verletzungen der Grenzen des Intimen Raums erdulden muss, wird mit Misstrauen, Zurückhaltung, ja schließlich Bitterkeit arbeiten müssen. Die Fähigkeit zu empathischer Kommunikation wird und muss leiden. Zur Professionalität gehört eine gemeinsame Haltung der Null-Toleranz gegen Gewalt einschließlich sexueller Gewalt in jeder Einrichtung und Institution. Dazu gehört, dass jeder „Vorfall“ besprochen wird, dass nach möglichen Quellen der Gewalttätigkeit gesucht wird und Konsequenzen gezogen werden: Konsequenzen für den Umgang mit denen, von denen die Gewalttätigkeit ausging, und mit deren Opfern, den Mitarbeiter/innen. Dazu gehört auch die Solidarität der männlichen Kollegen mit ihren Kolleginnen.

 

Auch Täter/innen werden alt und pflegebedürftig

Mögen die meisten Verletzungen der Intimität aus demenziellen Verirrungen erfolgen, so gibt es auch noch eine andere Quelle, die aus professioneller Sicht identifiziert werden muss. Wenn jede vierte Frau in Deutschland in ihrem Leben wenigstens einmal sexuelle Gewalt erfahren hat, wie eine Studie der Bundesregierung zeigte, dann heißt das, dass es viele, sehr viele verrohte Menschen gibt, die als Täter (oder Täter/innen) anderen Gewalt zufügen. Denn um Gewalt geht es immer bei sexualisierter Gewalt, bei gewalttätigen Verletzungen der Intimität. Wenn solche Menschen alt und pflegebedürftig werden, werden sie meist körperlich schwächer, aber nicht zu besseren Menschen. Auch Demenz produziert keine moralische Verbesserung, die andere Menschen achtet und würdigt. Deshalb ist es wichtig zu wissen, dass es unter denen, die sexuelle Übergriffe in der Pflege begehen, auch Täter und Täterinnen gibt, deren „Kick“ darin besteht, andere zu erniedrigen. Hier gilt das große und solidarische STOPP erst recht, hier muss es zu einer Kultur der Einrichtung oder Institution werden, um die Intimen Räume aller Mitarbeiter/innen zu schützen.

Würdigende Pflege braucht auch Würdigung der Mitarbeiter/innen!

 

Literatur:

Baer, U.; Frick-Baer, G.; Alandt, G. (2014): Wenn alte Menschen aggressiv werden. Rat für Pflegende und Angehörige. Weinheim

Walter, G.; Nau, J.; Oud, N. (Hrsg.) (2012): Aggression und Aggressionsmanagement. Praxishandbuch für Gesundheits- und Sozialberufe. Bern

 

Quelle: Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2014): „Der hat mir wieder an den Busen gegriffen …“. In: demenz 23 / 2014 zum Thema: Frauen: Umbrüche, Ausbrüche, Aufbrüche

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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