Stärkungsbriefe an einen dementiell erkrankten Freund: 3. „Die volle und die leere Hand“

Die folgenden Briefe gehen an einen Freund, der an Demenz erkrankt ist und vor kurzem die Diagnose erhalten hat. Ich werde diese Briefe hier veröffentlichen, damit auch andere dementiell Erkrankte, die dies lesen können, die eine oder andere Anregung zur Stärkung erhalten können. Selbstverständlich ohne intime Details. Fachkräfte und Angehörige, die dementiell erkrankte Menschen begleiten, können daraus – so wünsche ich mir – einige Anregungen erhalten. Udo Baer.

Lieber Fritz,
du weißt, dass auch ich manches nicht mehr unternehmen kann, was ich gerne unternehmen würde. Das wird dir ähnlich ergehen. Manches kann ich, aber manches geht halt nicht. Das ist traurig. Ich habe gelernt, wenn ich mich vor allem mit dem beschäftige oder überwiegend darauf konzentriere, was nicht mehr geht, dann kann mich das zeitweilig innerlich auffressen. Ich habe dann keine Kraft mehr, mich dem zuzuwenden, was ich gerne mache und was mir am Herzen liegt. Wenn wir Menschen eine volle Hand haben und gleichzeitig mit dieser Hand noch nach anderem greifen, wird uns das nicht gelingen. Wir müssen die volle Hand, so gut wir es können, leeren und loslassen. Wir sollten versuchen, das, was wir dort festhalten, loszulassen, um dann mit der leeren Hand nach etwas anderem greifen zu können. Der Moment des Loslassens ist der schwierigste. Wir haben dann einen Moment lang das Gefühl, nichts in den Händen zu haben und mit leeren Händen dazustehen. Doch nach diesem Moment entsteht die Möglichkeit, nach dem zu greifen, was wir lieben, nach dem, was wir wollen und wünschen, nach dem, was uns am Herzen liegt. Die volle Hand zu leeren, ist traurig und trauern ist das Gefühl des Loslassens. Du wirst einiges loslassen müssen in den nächsten Jahren und manches vielleicht auch jetzt schon. Doch mit der leeren Hand nach Neuem zu greifen oder nach Vertrautem erneut zu greifen, ist etwas, was lebenswert und liebenswert ist und was dir möglich ist.

Beim Loslassen ist es entscheidend, dass wir damit nicht allein sind, sondern dass wir andere Menschen haben, die mit uns trauern und die uns in unserem Loslassen begleiten. Ich trauere gerne mit dir. Wir können gemeinsam von diesem und jenem loslassen, um mit leeren Händen nach dem zu greifen, was uns am wichtigsten ist.

Herzliche Grüße
Udo

Würdigen, was ist

Würdigen, was ist – das ist ein guter Kompass, um alten Menschen würdigend zu begegnen. Es bedeutet, auf das zu achten, was hier und jetzt das Befinden der alten Menschen ist, und es ernst zu nehmen. Zum Beispiel:

  • Darauf zu achten, was heute an Alltagsaktivitäten nicht möglich ist und wobei jemand Hilfe braucht.
  • Ernst zu nehmen, wo jemand keine Unterstützung benötigt. Die Fähigkeiten und Kompetenzen zu würdigen.
  • Respektieren, dass es heute anders sein kann als gestern.
  • Würdigen, ob jemand gerade Nähe braucht oder Abstand.
  • Achtsam zu sein auf Kleinigkeiten, auf das kleine Lächeln, den Seufzer und das Aufblitzen der Augen und vieles andere mehr.

Würdigen, was ist – das bedeutet auch, sich selbst ernst zu nehmen. Wir sind nicht jeden Tag gleich gut drauf. Haben mal schlecht geschlafen, mal Liebeskummer oder andere Sorgen. Natürlich müssen wir in der Begleitung alter Menschen unsere Pflichten erfüllen. Doch wir sollten nicht alles, was uns bewegt, überspielen und zumindest Verständnis für uns haben, wenn unser Lächeln mal nicht so offen ist oder uns ein Seufzer überkommt.

 

Das große UND

Wenn Angehörige oder pflegende Fachkräfte Widersprüchlichkeiten begegnen und sich darum bemühen, sie zu würdigen, ist die Haltung des großen UND hilfreich. Wir Menschen sind oft gewohnt, in Entweder/oder-Kategorien zu denken und zu handeln: Entweder dies oder jenes …. Doch wenn wir würdigen wollen, was ist, und die Menschen mit demenziellen Erkrankungen zu respektierenden versuchen, dann lassen sich widersprüchliche Aspekte in den meisten Fällen mit einem großen UND verknüpfen:

  • „Ich liebe meine Mutter, pflege sie gerne, UND manchmal wird mir alles zu viel.“
  • „Meine demenziell erkrankte Partnerin kann sich manchmal nicht an meinen Namen erinnern und das ist schrecklich, UND oft lächelt sie mich an und strahlt mit ihren Augen, das ist wunderschön.“
  • „Mein Mann kann nicht mehr allein essen, UND er weiß noch, was ihm schmeckt und was nicht.“
  • „Die Oma erinnert sich an vieles nicht mehr, UND doch sie kann ihre Gefühle leben und zeigen.“

Wenn eine solche Haltung des großen UND eingenommen wird, dann wird die Kommunikation leichter für alle Beteiligten. Selbstverständlich gilt das große UND nicht für alle Aspekte des Erlebens. Wenn Menschen mit demenziellen Erkrankungen entwürdigt werden, dann gibt es kein großes UND, sondern ein STOPP. Auch wenn sie wegen Desorientierung oder aus anderen Gründen andere verletzen, ist es wichtig, dagegen einzuschreiten. Das große UND findet seine Grenzen, wo die Entwürdigung beginnt.

 

„Nach Hause“

Wenn alte Menschen, insbesondere demenziell erkrankte Menschen, in einer stationären Einrichtung, in der Tagespflege oder anderen für sie fremden Konstellationen unruhig werden und immer wieder betonen und rufen, „nach Hause“ zu wollen, dann ist es falsch, ihnen zu erklären, sie seien in einer Einrichtung, die gut für sie sei usw. In dem Bemühen, „nach Hause zu gehen“, steckt ein Gefühl. Diesem Gefühl mit rationalen Argumenten und Hinweisen zu begegnen, verstärkt die Unruhe noch mehr und bewirkt oft das Gegenteil des Beabsichtigten.

Welches Gefühl steckt hinter dieser Unruhe, nach Hause zu wollen? Die Sehnsucht nach Vertrautem, nach Geborgenheit. Das Zuhause ist der vertraute Ort, an dem man sich wohlfühlt, den man kennt, der selbstverständlich ist und in dem es eine Atmosphäre der Geborgenheit gibt. Wenn Menschen unruhig immer wieder nach Hause wollen, fehlt ihnen Geborgenheit. Es ist sinnvoll und not-wendig, um ihre Not zu wenden, sie in ihrem Bemühen nach Geborgenheit zu unterstützen. Vielleicht kann man sie fragen (wenn dies noch möglich ist, sonst Angehörige), was denn ihr Zuhause ist, was sie daran mögen, was ihr Lieblingsort ist, wie ihre Küche aussieht, auf welchem Sessel sie sitzen, welche Gegenstände sie mögen, welches Essen sie gekocht haben, welche Musik sie hören usw. Oft ergeben sich daraus Anhaltspunkte, was in der konkreten Situation an Geborgenheit fehlt und was vielleicht unterstützt werden kann. Es kann eine bestimmte Musik der Geborgenheit geschaffen werden. Es können Gegenstände aus der früheren Wohnung mit in die Einrichtung genommen werden, ein Stuhl, eine Kuckucksuhr, ein Kerzenständer oder anderes.

Möglicherweise gibt es auch andere Zugänge, um das Gefühl der Geborgenheit der entborgenen Personen zu unterstützen: Geborgenheit besteht aus Schutz, Wärme und Vertrautheit. Eine Pflegekraft oder ein*e Betreuer*in kann der beunruhigten Person Schutz anbieten, kann ihre Hand halten und mit ihr ein wenig auf und ab gehen, damit sie sich nicht allein fühlt. Man kann versuchen, Orte der Wärme zu suchen, eine Kerze anzünden, eine wärmende Decke anbieten oder einen Platz am Ofen oder an der Heizung aufsuchen. Wichtig ist darauf zu achten, welche Orte und welche Personen der beunruhigten Person vertraut sind, wo sie sich sicher fühlt und was sie kennt, nicht nur vom Verstand her, sondern von ihrem ganzen Erleben. Diese Orte und Personen ersetzen vielleicht nicht das Grundgefühl der Geborgenheit, das mit dem „Zuhause“ verbunden ist. Sie können aber wenigstens einen Hauch oder einen Teil dieser Geborgenheit schaffen.

In jedem Fall ist es sinnvoll, sich darum zu bemühen, der Spur der Geborgenheit nachzugehen. Die konkreten Schritte und Elemente, die sich auf diesem Weg ergeben, sind bei jeder Person verschieden. Manchmal gelingt dies nicht. Doch der Versuch lohnt sich immer.

Panik und Scham – die Folgen von Vergewaltigung

Bedrohliche Dunkelheit

Frau T. kann nicht im Dunkeln schlafen. Immer muss ein kleines Licht eingeschaltet bleiben, die Tür zu einem erleuchteten Flur hin wenigstens halb geöffnet sein. Sie lebt in einem Altenheim, ist 80 Jahre alt, sehr freundlich und zuvorkommend zu allen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern, ebenso zu allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. „Pflegeleicht“, sagen einige. Doch sie besteht unerbittlich und beharrlich darauf, nicht im Dunkeln schlafen zu können. Sie braucht Licht.
Eines Nachts ist das Altenheim von einer Stromstörung betroffen und es dauert fast 30 Minuten, bis die Elektrizitätsversorgung wieder in Gang kommt. In dieser dunklen halben Stunde schreit Frau T. so schrill und so verzweifelt, dass die Nachtschwester sie nicht beruhigen kann und ihr schließlich ein Schlafmittel verabreicht. Am nächsten Tag ist Frau T. verstört.

Frau T. ist am Ende des Zweiten Weltkriegs als junges Mädchen von russischen Soldaten vergewaltigt worden. Dieses Schicksal traf viele Frauen und Mädchen in diesen Jahren, zumeist in den von der russischen Armee eroberten Gebieten im Osten und in der Mitte des damaligen Deutschlands, zahlreich aber auch im Südwesten Deutschlands, als dieser von der französischen Armee besetzt wurde.
Frauen und Mädchen wussten in diesen Zeiten, dass sie sich verstecken mussten. Sie flüchteten sich in Kellerlöcher, Dachverschläge, Höhlen und an andere Orte, die zumeist im Dunkeln lagen. Dunkelheit ist für sie seitdem mit Angst und großen Gefahren verbunden. Nachts war die gefährlichste Zeit, in der die Soldaten kamen, oft betrunken. Frauen und Mädchen waren Freiwild. Wer dies erlebt hat oder davon Zeuge wurde, wird unbewusst alles dafür tun, dass dies nicht wieder geschieht. Der Körper warnt: Dunkelheit ist gefährlich, existenziell gefährlich. Dieser Notfallvorsorgemechanismus des Körpers ist mächtiger als der Verstand, der vielleicht sagt, hier und heute im Dunkel eines geschützten Schlafzimmers könne mir nichts passieren. Das Herz sagt, der Organismus sagt: Dunkelheit ist gefährlich, Dunkelheit bedeutet massive Bedrohung. Deshalb regieren manche alte Menschen mit Angst und Panik auf Dunkelheit.

Die leidige Frage mit dem „Sie“ und dem „Du“

In den meisten Einrichtungen der Altenhilfe und der ambulanten Versorgung gilt die Regel, die zu pflegenden Menschen mit dem Nachnamen anzusprechen. Das ist gut so. Das ist Ausdruck des Respekts vor ihnen. Doch das darf nicht zur Ideologie, zu einem unabdingbaren Muss werden, denn es gibt Ausnahmen. Eine alte Frau zum Beispiel ist dement und wird geistig und emotional zu einer Dreijährigen. Sie such nach ihrer Mutti. Würde die Betreuungskraft sie mit ihrem Nachnamen ansprechen, verstünde sie nichts. In ihrem eigenen Erleben ist sie drei Jahre alt. Da ist es sinnvoll und sogar notwendig, die Dame mit ihrem Vornamen anzusprechen, um sie zu erreichen und dann zu begleiten. Alles andere würde auf Unverständnis stoßen und störrischen Widerstand hervorrufen.

Dann gibt es Menschen, die in einem beruflichen und privaten Milieu aufgewachsen sind, in dem man sich duzt. Dem bin ich oft im Ruhrgebiet begegnet bei Arbeitern und Arbeiterinnen, Handwerker*innen und anderen. Sie duzen andere selbst, sie kennen es nicht anders. Manche von ihnen sind froh darüber, dass sie mit Sie angesprochen werden, doch vielen ist dies fremd und sie duzen zurück, wenn man sie siezt, oder reagieren irritiert. Demenzielle Erkrankungen sind schon sehr verunsichernd. Wenn dann noch Irritationen im Umgang miteinander dazukommen, kann dies die Verunsicherung verstärken. Hier ist es oft sinnvoll, „Richard“ statt „Herr Schneider“ zu sagen. Manchmal kann man die Menschen auch siezen und gleichzeitig mit dem Vornamen ansprechen.

Es gilt bei der Ansprache, die Orientierung an dem höflichen Sie beizubehalten UND es ist gleichzeitig notwendig, flexibel zu sein und nicht in ideologischen Normen zu erstarren.

Stärkungsbriefe an einen dementiell erkrankten Freund: 2. „Die große Unterscheidung – Demut ohne Demütigung“

Die folgenden Briefe gehen an einen Freund, der an Demenz erkrankt ist und vor kurzem die Diagnose erhalten hat. Ich werde diese Briefe hier veröffentlichen, damit auch andere dementiell Erkrankte, die dies lesen können, die eine oder andere Anregung zur Stärkung erhalten können. Selbstverständlich ohne intime Details. Fachkräfte und Angehörige, die dementiell erkrankte Menschen begleiten, können daraus – so wünsche ich mir – einige Anregungen erhalten. Udo Baer.

Lieber Fritz,
du weißt ja, dass ich auch einige Erkrankungen hinter mir habe und manche davon Folgen haben, die mich mein Leben lang begleiten werden. Mir hat geholfen zu unterscheiden zwischen dem, was ich verändern kann, und dem, was ich nicht verändern kann. Wir Menschen haben alle Dinge, Ereignisse, Umstände in unserem Leben, auf die wir keinen oder kaum Einfluss haben, die wir zumindest in der konkreten Situation nicht verändern können. Dazu gehören oft Krankheiten. Wenn ich meine Energie darauf verwende, diese Krankheiten zu beseitigen, oder mich immer nur gräme und mit meinem Schicksal hadere, dann ist das verlorene Energie. Ich versuche, die Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was ich ändern kann und was ich nicht verändern kann, und meine Kräfte daraufhin zu konzentrieren, worauf ich Einfluss habe, worin ich wirksam bin, wo ich etwas bewegen kann. Was ich bewegen kann, sind die Beziehungen zu den Menschen, die ich gern habe und die mir wichtig sind. Dazu gehörst du und anderes mehr. Hinsichtlich der Lebensaspekte, die ich verändern kann, versuche ich, aktiv zu sein, so, wie es meinen Kräften und Möglichkeiten entspricht. Gegenüber dem, was ich nicht verändern kann, bemühe ich mich um eine Haltung der Demut.

Demut bedeutet nicht, sich demütigen zu lassen. Weil Demut oft mit Demütigung verwechselt wird, hat sie deswegen einen etwas schlechten Ruf. Demut ist für mich aber etwas ganz anderes. Demütigung kommt von außen, Demut kommt von innen, ist eine Haltung, sich vor dem zu verneigen und das zu akzeptieren, was ist, zu würdigen, was ist. Auch das, was nicht im Rahmen meiner oder unserer Veränderungs-Möglichkeiten steht. Diese Demut hilft mir und setzt Energien frei für das, was ich gerne mache und was mir wichtig ist und was möglich ist.

Herzliche Grüße
Udo

Folgen traumatischer Erfahrungen können im Alter nachwirken-Auf der Flucht: 2. „Auf Wanderschaft“

Einen Tag, nachdem Frau C. in das Altenheim eingezogen ist, beginnt sie zu schreien. „Ich will hier raus! Die sperren mich ein! Ich habe doch nichts verbrochen! Ich will hier raus!“

Sie ist nicht zu beruhigen und wandert ruhelos auf und ab. Ihre Unruhe steckt andere Bewohnerinnen und Bewohner an …
Von der Tochter erfahren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: „Mutter ist ihr ganzes Leben lang auf Wanderschaft gewesen. Ich glaube, sie hat es nie länger als zwei Jahre an einem Ort ausgehalten. Immer, wenn sie anfing, heimisch zu werden, musste sie wieder los.“
Frau C. konnte geholfen werden, indem man sie in den Garten der Einrichtung führte und ihr außerhalb des Hauses und dann auch innerhalb viele Wege zeigte, die sie gehen konnte.

Frau C. hatte als Jugendliche ihre Heimat verloren und war nie mehr an einem Ort heimisch geworden. Sie hatte einen großen Flüchtlingstreck mitgemacht, auf dem es hieß: „Immer weiter, immer weiter!“ Dieses „Immer weiter“ prägte ihr ganzes Leben. Diese Ruhelosigkeit, dieses Nicht-Heimisch-Werden, hat sie mit manch anderen Menschen ihrer Generationen gemeinsam, die Flucht und Vertreibung erleben mussten.

Stärkungsbriefe an einen dementiell erkrankten Freund- 1. Der Schock

Die folgenden Briefe gehen an einen Freund, der an Demenz erkrankt ist und vor kurzem die Diagnose erhalten hat. Ich werde diese Briefe hier veröffentlichen, damit auch andere dementiell Erkrankte, die dies lesen können, die eine oder andere Anregung zur Stärkung erhalten können. Selbstverständlich ohne intime Details. Fachkräfte und Angehörige, die dementiell erkrankte Menschen begleiten, können daraus – so wünsche ich mir – einige Anregungen erhalten. Udo Baer.

Lieber Fritz

Als ich gestern von dir hörte, dass du die Diagnose Alzheimer-Demenz erhalten hast, hat mich das erschrocken. Auch du warst erschrocken, ja mehr, du warst unter Schock. Deine Frau und deine beiden Kinder auch. Ich will dir schreiben, was ich dir gestern auch schon versucht habe zu sagen. Bei unserem Gespräch warst du so geschockt, dass du nur wenig zuhören konntest. Ich hoffe, es hat dir trotzdem gutgetan.

Bei dieser Diagnose, ähnlich wie bei anderen Erkrankungen, geschockt zu sein, ist normal und selbstverständlich. Wir wissen alle, dass eine Alzheimer-Demenz nicht heilbar ist und dass sie fortschreitet. Das erschreckt, auch wenn wir wissen, dass du viele Jahre leben kannst und wirst und dass du mit deiner Frau, deinen Kindern, deinen Freunden und Bekannten eine gute Umgebung hast. Sie kann dich halten und unterstützen und doch bleibt der Schrecken, bleibt der Schock. Ein Schock lässt verstummen und erstarren. Es fehlen einem zunächst die Worte und man fühlt sich gelähmt. Das ist wichtig zu akzeptieren. Wir Menschen sollten, wenn wir geschockt sind, nicht darüber hinweggehen, auch du nicht, auch ich nicht. Und dann, nach einiger Zeit, einigen Stunden, einigen Tagen – das ist bei den Menschen unterschiedlich – ist es wichtig, darüber zu reden, um den Schrecken zu teilen. Darüber zu sprechen, was dich bewegt, wird dir gut tun, auch deiner Familie. So, wie ich dich kenne, hast du wahrscheinlich Sorge, dass du dich mit deinem Schrecken, deinen Ängsten und anderen Gefühlen deiner Familie nicht zumuten möchtest, um sie nicht zu belasten. Doch das ist Unsinn. Deine dir nahestehenden Menschen lieben dich und schätzen dich. Und sie bekommen sowieso mit, was du spürst. Sie teilen den Schrecken und auch den Schock. Es tut auch ihnen gut, wenn du deine Begegnungen und Kontakte mit ihnen nicht herunterfährst oder Gefühle aussparst, sondern sie mit ihnen teilst, ja noch intensiver ihnen begegnest als vielleicht zuvor. Den Schock zu respektieren, ist wichtig, ihn allmählich zu überwinden mit allem, was dazugehört, ihn zu teilen, ist noch wichtiger.

Wir können jederzeit telefonieren oder uns über das Internet unterhalten, auch wenn ich so weit weg wohne.

Herzliche Grüße

Udo

 

Folgen traumatischer Erfahrungen können im Alter nachwirken- Auf der Flucht 1- Unruhe

Unruhe

Herr M. kommt in eine Beratungsstelle. „Ich bin in der letzten Zeit immer so unruhig und weiß gar nicht, wovon das kommt.“ Der Berater fragt, wann dies begonnen habe. Herr M. antwortet: „Kann ich nicht genau sagen. Das ist eigentlich immer schon so gewesen, dass ich solche Phasen hatte. Aber in der letzten Zeit ist das richtig stark geworden, seit einigen Monaten vielleicht und ganz besonders in den letzten Wochen.“

Der Berater fragt: „In welchen Situationen oder nach welchen Situationen ist das besonders stark? Vielleicht nachdem Sie einen bestimmten Film geschaut haben, nachdem Sie mit jemandem geredet haben, tagsüber oder nachts? Was wissen Sie, was ist Ihnen aufgefallen?“

Herr M. überlegt eine Weile und antwortet dann: „Auch das kann ich nicht genau beantworten. Fernsehen schaue ich zwar relativ viel, aber keine Sachen, die mich aufregen, wie zum Beispiel Tatort oder Filme, in denen Tote vorkommen, aber … genauer kann ich es nicht sagen.“

Der Berater fragt Herrn M., wann er geboren sei.

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