Stärken, nicht schwächen

Jeder Mensch ist vielfältig. Er hat Schwächen und Stärken. Er kann vieles und manches weniger gut oder gar nicht. Auch Gesundheit und Krankheit sind in vielen Aspekten nebeneinander lebendig. Dieses Nebeneinander gilt auch für Menschen mit demenziellen Erkrankungen. Sie sind krank, sie vergessen vieles. Sie haben Orientierungsschwierigkeiten und andere Symptome, UND sie haben gleichzeitig Fähigkeiten zu fühlen, zu lachen, zu staunen, andere Menschen zu berühren und sich berühren zu lassen.

Wenn wir Menschen als Personen betrachten und würdigen wollen, dann müssen wir diese Vielfältigkeit beachten und respektieren. In unserem Verhalten gerade in unserer Kommunikation den Menschen gegenüber sollte auf dieser Grundlage die Hauptabsicht darin bestehen, sie zu stärken und nicht zu schwächen. Ein Beispiel:

Die Tochter findet unter den Nachthemden ihrer Mutter in deren Kleiderschrank zwei angeschimmelte, alte Brötchen. Sie schimpft mit der Mutter: „Ich habe dir doch schon so oft gesagt, du sollst mir deine Brötchen geben oder wegwerfen und nicht dort verstecken. Was machst du denn immer? Willst du mich verärgern? Du bekommst hier doch immer genug zu essen. Was soll das denn?“

Für die Mutter ist ihr Verhalten normal. Sie hat in der Nachkriegszeit Hunger erlitten und ist deswegen nicht in der Lage und willens, Lebensmittel wegzuwerfen. Sie hebt sie auf, versteckt sie sogar, damit niemand anderes sie ihr entwenden kann – und dann vergisst sie dies. Durch das Schimpfen der Tochter wird sie mit dieser Vergesslichkeit konfrontiert. Die Verwirrung steigt und ihr Selbstwertgefühl wird noch geringer, als es zuvor schon war.

Die Empörung der Tochter ist verständlich. Doch es ist sinnvoll, zumindest zu versuchen, die an Demenz erkrankte Mutter eher zu stärken als zu schwächen. Eine solche Kritik oder Empörung schwächt sie und verstärkt die Erkrankung. Die Tochter könnte stillschweigend über das, was sie im Kleiderschrank gefunden hat, hinweggehen. Oder sie könnte sagen: „Ich nehme deine Vorräte mit und stelle sie in den Lebensmittelschrank oder Kühlschrank. Die hier sind schon verdorben. Die werfe ich weg. Dafür bekommst du neue.“

Wenn Menschen mit demenziellen Erkrankungen etwas tun, was die Angehörigen oder Pflegenden erfreut, dann ist es gut, dem Rückmeldungen zu widmen. „Ihr Lächeln ist aber heute besonders schön!“ „Die Bluse steht Ihnen gut!“ „Es ist großartig, dass Sie Ihr Brot selbst schmieren können.“ … Solche Rückmeldungen sind nicht banal. Sie stärken und betonen die Kompetenzen, Fähigkeiten und Ausdrucksweisen der demenziell erkrankten Menschen, ohne deren Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten zu ignorieren. Sie stärken.

 

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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