Fach-Professionalität und Herz-Professionalität aus dem Buch „Edition Alter und Würde“ Band 1: SMEI – Sensomotorische erlebenszentrierte Interaktion

Die Haltung, die allen SMEI-Methoden zugrunde liegt, ist professionell. Doch darunter ist mehr als das Umsetzen gelernten Wissens und das Handhaben erworbener Kompetenzen zu verstehen. Wir unterscheiden zwischen zwei Hauptaspekten der Professionalität:

Betrachten wir ein Beispiel. Der Altenpfleger Stefan H. bekommt mit, wie eine alte Frau im Heim eine Altenpflegeschülerin wüst beschimpft und nach ihr schlägt. Seine Kollegin ist wie erstarrt und regt sich nicht. Stefan H. geht dazwischen und sagt der alten Frau: „Stopp! Schlagen Sie nicht nach meiner Kollegin. Das ist nicht in Ordnung und das will ich nicht.“ Die alte Frau, die dement ist, reagiert darauf und hört auf zu schimpfen und zu schlagen. Ja, sie schaut ein wenig erschrocken und schuldbewusst, was sie da getan hat, eine Reaktion, der wir in solchen Situationen oft bei Menschen mit Demenz begegnen.

Stefan H. hat aus seinem spontanen Erleben gehandelt, in Solidarität mit seiner Kollegin. Wir nennen das Herz-Professionalität. Sie ist ein Teil der Professionalität und das ist gut so. Ich möchte, wenn ich krank bin oder alt bin oder aus anderen Gründen Hilfe brauche, von Menschen begleitet werden, die Mitgefühl haben, die mit Wärme, die mit Herz arbeiten. Herz-Professionalität bedeutet, eigene Gefühle ernst zu nehmen und in den Dienst der professionellen Beziehung zu stellen. Sie beinhaltet, auf die Gefühle, die Schmerzen und die Freude anderer einzugehen, und das als mitfühlender Mensch und nicht als Techniker der Pflege, Therapie oder sozialen Arbeit. Herz-Professionalität beinhaltet, die Frage „Wie geht es?“ mit Interesse zu stellen und ehrlich auf sie zu antworten. Nicht alles zu sagen, was man fühlt oder denkt, aber zu gewährleisten, dass alles, was man sagt, wahrhaftig ist. Sich persönlich in die professionelle Beziehung einzubringen, was nicht damit zu verwechseln ist, sein Privatleben über die anderen auszuschütten.

 

Herz-Professionalität ist wichtig. Beziehung heilt, das wussten gute Therapeut/innen immer schon. Mit dem Herzen Menschen zu begleiten und zu pflegen, ist wirksamer und leichter als dies zu tun, ohne das Herz zu beachten. Dabei ist es wichtig, die vielleicht in der Persönlichkeit angelegten Kompetenzen der Herz-Professionalität zu erweitern und zu verfeinern. In der SMEI-Praxis berücksichtigen wir die Wirkungen der Resonanz, also der leiblichen Wechselwirkungen in den Beziehungen zwischen zwei Menschen. Es geht uns nicht um bloßes „Mitfühlen“, sondern um Wege, sich ernst zu nehmen und dies in den Dienst der Pflege, der sozialen Arbeit, in den Dienst der Therapie zu stellen.

 

Und es gibt die Fach-Professionalität. Auch bei Stefan H..

Er trat nach seiner Intervention innerlich beiseite und überlegte, was er fachlich kompetent tun müsse, um auf die Situation einzugehen. Er rief eine andere Kollegin herbei und bat sie, sich um die Altenpflegeschülerin zu kümmern. Er selbst wandte sich der Bewohnerin zu. Aufgrund seiner Fachkompetenz wusste er, dass Menschen, die an Demenz erkrankt sind, oft aggressiv werden, weil sie überfordert sind. Der Subtext ihrer Aggressivität liegt meistens (nicht immer) in ihrer Hilflosigkeit. Also beließ er es in seiner Reaktion nicht bei dem notwendigen „Stopp“, sondern kümmerte sich um das, was die alte Dame überfordert hatte. Und schon wurde der Aggressivität der Boden entzogen.

 

Dass Fach-Professionalität notwendig ist, ist meist unumstritten. Doch die Fach-Professionalität muss sich auch auf Kenntnisse, die das Erleben der Menschen betreffen, erstrecken. Wie erleben Menschen mit Demenz sich und ihre Welt? Die SMEI-Methoden wurden auf der Grundlage dieser Kenntnisse entwickelt und wirken auf dieser Basis. Herzlichkeit und Fachlichkeit sind keine Gegensätze, sondern gehören zusammen. Herz-Professionalität und Fach-Professionalität ergeben gemeinsam die Professionalität. In dieser Hinsicht verstehen wir die SMEI-Methoden als professionelles Handwerkszeug.

 

„Edition Alter und Würde“ Band 1: SMEI – Sensomotorische erlebenszentrierte Interaktion

Bestellbar online unter www.semnos.de

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Ein Kommentar zu “Fach-Professionalität und Herz-Professionalität aus dem Buch „Edition Alter und Würde“ Band 1: SMEI – Sensomotorische erlebenszentrierte Interaktion

  1. Sehr geehrter Dr. Baer, in dem Fallbeispiel finde ich mich wieder. Wie oft habe ich selber diese Reaktion ausgelöst und leider auch oft mit Unverstand reagiert. Erst als ich angefangen habe mein eigens Tun und Handeln zu hinterfragen ging es mir besser. Ich musste aber auch erst lernen genau hin zu sehen und auch hin zu hören. Heute versuch ich das meinen Schülern zu vermitteln. Jede Reaktion die wir als Pflegende bekommen haben wir ausgelöst. Hinterfragen sie ihr Handeln. Wenn ich dann auch noch ein Rollenspiel folgen lasse wird der Raum oft hell weil so vielen ein Licht aufgegangen ist. Darüber freue ich mich dann immer sehr. Selbst in der Ausbildung zum / zur Altenpflege kmmt der Umgang mit alten Menschen immer noch viel zu kurz. Es liegt an uns Lehrern immer wieder Beispiele für unsere Schüler zu bringen damit sie verstehen und dann auch Handeln können. MfG P. Kaufmann

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