Begegnung statt Aktionismus

Ich wollte letztens für November einen Termin für eine Veranstaltung in einem Altenheim vereinbaren. Ich hörte: „Das geht nicht. Da fangen schon die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeiern an.“ Der Januar war auch schlecht, weil es nach den Weihnachtsfeiern schon direkt in die Karnevalsaktivitäten überging …

Es ist schön, dass Weihnachtsfeiern und Karnevalsfeste stattfinden können. Doch manchmal reiht sich eine Veranstaltung an die nächste. So sehr ist das Bemühen vieler Menschen in der Altenpflege davon geprägt, den alten Menschen „etwas zu bieten“. Darunter wird vor allem eine Vielzahl von Aktivitäten verstanden: Ausflüge, Feste, Veranstaltungen, Feiern und dergleichen mehr. Für manche alten Menschen ist dies gut und trifft ihre Bedürfnisse, für andere nicht. Manche wollen einfach nur ihre Ruhe. Wenn ich müde und krank bin und jemand zu mir kommt und zum dritten Mal eine „Zehn-Minuten-Tisch-Aktivierung durchführen“ möchte oder mich begleitet, ohne dass ich mich wehren kann, zu einer Veranstaltung, die ich eigentlich gar nicht mag und die mich überfordert, dann würde ich wahrscheinlich aggressiv werden.

Noch einmal: Für manche Menschen mögen solche Aktivitäten sinnvoll sein, für andere nicht. Es ist wichtig, das zu unterscheiden und nicht nur ein verbales, lautes Nein der alten Menschen zu akzeptieren, sondern auch ein Nein, das sich durch Wegblicken oder andere Zeichen der Körpersprache ausdrückt.

Warum sind so viele Mitarbeiter*innen der sozialen Dienste und der Altenhilfe so sehr mit solchen Aktivitäten beschäftigt? Sie haben nicht gelernt, stattdessen auf Begegnungen zu setzen. Begegnung ist viel mehr als gemeinsames Handeln. Begegnung erfolgt auch über Blicke, über Berührungen, über Atmosphären und Gesten. Unterstützende Hilfe zum Beispiel für demenziell erkrankte Menschen kann auch darin bestehen, mal für fünf Minuten neben ihnen zu sitzen und die Hand zu halten – und nichts zu tun, scheinbar nichts zu tun. Beziehungswürdigung und Beziehungsangebote sind die Alternative zu einem Aktionismus, der zum Selbstläufer wird. Das gemeinsame Singen, Essen, Feiern kann Begegnungen schaffen und Beziehungen fördern. Doch auch die Stille und die zarte Berührung dienen dazu. Der Blickkontakt, der länger als eine Sekunde weilt, die Berührung der Hand oder der Schulter, der gemeinsame Blick aus dem Fenster auf die Wiese oder den Baum – solche und andere unspektakuläre Aktivitäten schaffen Begegnungen. Und Begegnungen sind es, die die alten Menschen brauchen, die zu vereinsamen drohen, nicht der Aktionismus, sondern die Begegnung der Augen, der Blicke, der Töne, der Sinne.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Ein Kommentar zu “Begegnung statt Aktionismus

  1. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ sagte Martin Buber und eines seiner Bücher trägt diesen Buchtitel. Ein weiteres sehr passendes Zitat ist: „Manchmal ist einer, der Dir zuhört, wichtiger als ein Stück Brot“ – oder im Sinne dieses Artikels „wichtiger als eine Aktivität“. Die wundervolle Geschichte „Ein andermal“ erklärt ebenfalls sehr anrührend, worum es eigentlich geht. Die Geschichte findet man unter anderem auch auf meiner Homepage http://www.aktiv-mit-senioren.de. Danke Herr Baer für Ihre so hilfreichen Texte!

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