Geboren bis 1946/47

Eine traumatisierte Generation und ihre rätselhaften Verrücktheiten

Mittagszeit im Altenpflegeheim: Die 14 Bewohnerinnen und Bewohner der Wohngruppe in der ersten Etage haben gerade ihre Plätze eingenommen, wie jeden Tag um 12 Uhr. Doch heute ist es anders als sonst. Punkt 12 Uhr ertönt die Sirene des Probealarms. Alle Bewohnerinnen und Bewohner erstarren, nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht. Vier der alten Damen und Herren stehen auf und beginnen unruhig hin und her zu laufen. Zwei versuchen unter den Tisch zu kriechen, Frau S. beginnt lang anhaltend und laut zu schreien.

Was war geschehen? Weit zurückliegende Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg hatten die Wohngruppe in Angst und Unruhe versetzt. Fast alle Bewohnerinnen und Bewohner haben im Krieg Schlimmes erfahren, der Klang der Sirene hatte all das wieder belebt und entsprechende Reaktionen hervorgerufen. Sie erinnerten sich nicht „einfach“ an die Bombardierungen, die dem Sirenengeheul folgten – sie erlebten sie, als passierten sie jetzt.

Wie viele Menschen, die die Schrecken des Krieges und der Nachkriegszeit erlebt haben, dadurch traumatisiert wurden, ist nicht exakt zu bestimmen. Untersuchungen und Schätzungen legen nahe, dass fast ein Drittel eine traumatische Erfahrung gemacht hat, etwa ein weiteres Drittel sogar mehrere. Das gilt nicht nur für diejenigen, die damals erwachsen waren. Auch Kinder werden traumatisiert, wenn sie Zeugen von dramatischen Ereignissen sind, wenn sie Atmosphären von Angst und Schrecken mitbekommen. Betroffen sind also die Jahrgänge, die bis 1946/47 geboren wurden.

Die meisten haben ihre Schreckenserfahrungen verdrängt und beiseite geschoben. Doch im Alter gelingt dies den wenigsten. Die Schrecken drängen an die Oberfläche und beeinflussen das Erleben und Leben der alten Menschen. Für alle, die als Pflegende oder Angehörige alte Menschen begleiten und auch für die alten Menschen selbst ist es darum wichtig, diese Phänomene erkennen und deuten zu können. Denn oft werden Reaktionen auf alte kriegstraumatische Erfahrungen nicht mit den damaligen Ereignissen in Verbindung gebracht.

 

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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