Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann, Teil 6: Die Scham

 

 

Wenn jemand die Demenz-Diagnose erfährt, ist es wünschenswert, dass das Familiensystem und die Freunde und Freundinnen helfen können und dürfen. Doch oft begegnen wir genau an dieser Stelle der Scham. Die Betroffenen schämen sich, dass sie an Demenz erkrankt sind – und reden deshalb nicht darüber. Familienangehörige schämen sich ihres oder ihrer Erkrankten und vor allem schämen sich viele Menschen, hilfsbedürftig zu sein. Sich helfen zu lassen, haben sie nicht gelernt, insbesondere diejenigen, die geprägt wurden durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre oder weil die Kinder der Kriegsgeneration sind und deren Verhaltensweisen übernommen haben. Dass man hilfsbedürftig ist, möchten viele von diesen Menschen nicht zeigen. Deswegen verweigern sie Hilfe und verschweigen ihre Erkrankung, so lange es geht, damit sie gar nicht in den Ruf der Hilfsbedürftigkeit geraten. Sie bleiben lieber hilflos, als ihre Scham zu akzeptieren und auszuhalten oder gar durch sie hindurchzugehen und zu lernen, Hilfe zu akzeptieren.

Weiter lesen

Demenz-Code Teil 8: Die Sinnesbrücken

This entry is part 8 of 8 in the series Demenz Code

 

 

Dass Sinnesäußerungen als Teil des Demenz-Codes besondere Beachtung verdienen und oft mehr zum Verständnis beitragen als verbale Äußerungen, habe ich schon beschrieben. Doch ihre Bedeutung weist darüber hinaus: Sie zeigen uns mögliche Brücken der Begegnung. Schon im am Anfang des Kapitels genannten Beispiel war die fahrig umher tastende Hand der alten Dame nicht nur ein Zugang, um zu verstehen, was die Worte für das Verständnis nicht hergaben. Sie waren ein Indiz, worüber eine Begegnung mit der Frau möglich war: Die Begleiterin ergriff ihre Hand.

Solche Einladungen gibt es viele. Wenn Frau V. den Pfleger fortwährend starr anblickt, dann ist das ein Zeichen für ihn, dass er sich so setzen oder kauern sollte, dass er Frau V. auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Dann schauen sich beide ein wenig länger in die Augen, zehn, zwanzig Sekunden – das reicht. Frau V. fühlt sich über diese Sinnesbrücke gesehen und sie beginnt zu lächeln. Ein persönlicher Kontakt, eine Begegnung ist entstanden.

Weiter lesen

Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann, Teil 5: Was ungelebt blieb

 

 

Die Diagnose Demenz wirft für die Betroffenen und für die Angehörigen die Frage auf: „Was wollen wir noch (gemeinsam) erleben?“ Jeder Mensch hat Träume, hat Vorhaben, was man „irgendwann noch machen möchte“. Die Demenz-Diagnose stellt all diese Träume und Vorhaben – ob ausgesprochen oder nicht – in Frage.

Es gilt dreierlei zu tun:

Erstens ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, welche Wünsche, Träume, Vorhaben vorhanden sind, welche ausgesprochen wurden oder vor allem diejenigen herauszufinden, die nicht ausgesprochen wurden. Es ist notwendig, dass sich die Familie zusammensetzt und darüber redet. Dabei wird sich zeigen, was in den Partnerschaften und auch in den Eltern-Kind-Beziehungen zu kurz gekommen ist, was ungelebt wurde.

Weiter lesen

Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann Teil 4: Das schaffen wir alleine!

Eine häufige Reaktion auf die Demenz-Diagnose besteht bei Betroffenen wie Angehörigen in der Haltung: Das schaffen wir alleine. Unsere Antwort auf diese Reaktion ist: Nein! Das schaffen Sie nicht! Sie brauchen Hilfe!

Es ist unbedingt notwendig, eine gegenüber der Hilfe offene Haltung zu entwickeln. Dies bedeutet nicht nur, dass man Hilfe suchen und annehmen muss, sondern auch und vor allem, dass man dafür offen ist und das Gefühl der Hilfsbedürftigkeit zulässt. Das können viele Menschen nicht. Es ist notwendig, sich mit den eigenen Mustern der Hilfe und der Hilfevermeidung zu beschäftigen. Die Menschen sind dadurch geprägt, dass sie Hilfesuche vermeiden und Hilfsangebote ignorieren oder gar ablehnen. Für Frauen ordnen sich unter und verstärken ihre familiäre helfende Rolle noch, indem sie zum Beispiel ihren Partner oder ihren Vater oder Mutter begleiten und pflegen und dabei weitere Hilfsmöglichkeiten ignorieren. Viele Männer sind darauf gepolt, Stärke zu zeigen: „Ich kann das alleine!“ Oder: „Indianer kennen keinen Schmerz – und keine Demenz!“

Wer Hilfe annehmen kann, wird nach unseren Erfahrungen deutlich besser die Demenz bewältigen und mit ihr leben können als einzelne Personen und als Familie.

Demenz-Code, Teil 7: Die Überforderungssignale

This entry is part 7 of 8 in the series Demenz Code

 

 

 

 

Wegen vieler Nachfragen veröffentlichen wir hier einzelne Elemente des „Demenz-Codes“ von Udo Baer, einem Schlüssel zum Verständnis von Menschen mit Demenz.

Herr G. beginnt plötzlich zu schimpfen. Alle anderen Bewohner/innen im Essraum der Alteneinrichtung schauen auf. Da fegt er mit seinem Arm den Teller, das Wasserglas und alles andere, das vor ihm auf dem Tisch steht, beiseite. Es fällt auf den Boden. Alle sind erschrocken und denken, dass Herr G. aggressiv ist.

Weiter lesen

Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann Teil 3: Verleugnen, Erstarren, Aktionismus

 

Als Reaktion auf die Demenz-Diagnose begegnen uns vor allem drei häufige Reaktionen, nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, sondern auch bei Familienangehörigen.

Die erste Reaktion ist das Verleugnen: „Das kann doch nicht sein!“ Oder: „Die müssen sich vertan haben.“ Viele Menschen wollen nicht wahrhaben, was das Ergebnis der Diagnose ist. Solche Reaktionen kennen wir bei vielen schockartigen Ereignissen, die das Leben der Menschen beeinflussen und ändern können, zum Beispiel wenn ein Partner der Partnerin mitteilt, dass er sie verlassen wird, oder bei anderen Diagnosen wie zum Beispiel der Diagnose Krebs. Das Verleugnen ist kein bewusster Akt, in dem ein Mensch nach Überlegungen zu dem Schluss kommt, dass die Diagnose falsch sein muss. Nein, es ist eine zutiefst leibliche Reaktion, die dem Schock entspringt. Der Schock der Diagnose überfordert den Menschen. Also wird das, was die Diagnose sagt, abgewehrt, indem es in Zweifel gezogen oder ganz geleugnet wird. Das Verleugnen ist also eine Überlebensreaktion.

Weiter lesen

Demenz-Code Teil 6: Die neun Arten, Nein zu sagen

This entry is part 6 of 8 in the series Demenz Code

 

 

 

 

 

Wegen vieler Nachfragen veröffentlichen wir hier einzelne Elemente des „Demenz-Codes“ von Udo Baer, einem Schlüssel zum Verständnis von Menschen mit Demenz.

Viele Menschen, die an Demenz erkrankt sind, können sich nicht mehr differenziert äußern. Insbesondere das Nein-Sagen fällt ihnen schwer. Dies ist Ausdruck der demenziellen Desorientierungen und Kommunikations-Einschränkungen. Hinzu kommen vor allem bei zahlreichen alten Frauen die soziokulturellen Gewohnheiten. Wer in seinem Leben nie oder selten „Nein“ sagen durfte, wird dies nur schwerlich im hohen Alter bzw. in der Demenz lernen.

Ich werde Ihnen deshalb hier neun Arten, Nein zu sagen, vorstellen. Sie sind im Rahmen der Entschlüsselung des Demenz-Codes bedeutsam. Für die Wahrung der Würde an Demenz erkrankter Menschen brauchen sie das Recht, „Nein“ sagen zu dürfen und zu können. Dazu müssen sie verstanden werden.

Weiter lesen

Der Diagnoseschock. Wie die Demenz-Diagnose Familienbeziehungen durcheinanderwirbelt und was dann helfen kann, Teil 2: Der Schock

Der Schock

Eine Diagnose Demenz bzw. Alzheimer-Demenz ist ein Schock für alle Beteiligten. Ich betone noch einmal: alle Beteiligten. Diese Diagnose beinhaltet nicht nur eine Information, sondern ruft wesentliche emotionale Schockwellen hervor. Es ist ein Einschnitt zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen, zwischen vorher und nachher. Dieser Schock, dieser Einschnitt muss gewürdigt werden.

Weiter lesen

Die Spannung in den Zähnen

Viele ältere Menschen haben große Spannung in den Zähnen. Darunter leiden ihre Gebisse. Oft schmerzt der Kiefer bzw. die Kiefermuskulatur. Sicherlich kann diese chronische Anspannung bei manchen Menschen davon abstammen, dass sie gewohnt waren und sind, „die Zähne zusammenzubeißen“. Wenn sie schwächer werden, wenn sie Schmerzen haben, wenn sie unsicherer werden, neigen sie dazu, die Zähne noch stärker zusammenzubeißen und können sie dann oft nicht mehr loslassen, sodass die Spannung zu einem Dauerdruck wird.

Weiter lesen

Auch bösartige Menschen werden alt – was tun? Teil 5: Keine Floskeln

This entry is part 5 of 8 in the series Auch bösartige Menschen werden alt – was tun?

Begründen Sie Ihr „Stopp“ nicht mit allgemeinen Floskeln. Ihr „Stopp“ muss als wahrhaftiges „Nein“ seine Adressaten finden. Es reicht oft nicht zu sagen: „Solche Worte sollten Sie hier nicht in den Mund nehmen.“ Oder: „Das tut man nicht.“ Senden Sie stattdessen Botschaften vom Ich zum Du, zum Beispiel:

Weiter lesen